Tantra Yoga - die Upāyas

Tantra Yoga - śāmbhava upāya, śākta-upāya, ānava-upāyaUpāyas nennt man die Praktiken des Tantra Yoga, die das verkörperlichte Śiva-Bewusstsein (Jīvanmukti) verwirklichen sollen.

Aber warum eigentlich irgendwelche Praktiken, wenn wir doch - so jedenfalls aus tantrischer Sicht - als eine kontrahierte Form Gottes bereits perfekt sind?

Tatsächlich sind Praktiken - so gesehen - nicht notwendig, da wir als das Ich, mit dem wir uns identifizieren und das wir glauben zu sein, ja auch einfach weiterhin in dem Film aufgehen können, den wir selbst drehen, und dessen Publikum wir gleichzeitig sind. Abgesehen davon, dass es sich für viele, denen es auffällt, nicht gut anfühlt, scheint erstmal nichts grundsätzlich Verkehrtes daran zu sein. Es ist ja schließlich das ganz normale Leben. Auch manch ein Hohepriester unserer materialistischen und objekthaften Sicht auf die Welt und auf uns selbst wirbt dafür (wie z.B. Siegmund Freud, der in Aussicht stellte, dass die Psychoanalyse der Menschheit den Weg von unerträglichem Elend zu alltäglichem Leid ebnen werde).

Die Identifikation mit solch einer Haltung des "gesunden Menschenverstandes", der das Leidvolle in der Begrenztheit des egohaften Seins begrüßt, ist ein gutes Beispiel für ein sog. "Vikalpa", ein geistiges Gebilde, das die Begrenztheit unseres Erlebens bedingt. Es ermöglicht uns, die Welt unseres Erlebens mit allerlei Projektionen zu bevölkern, in denen wir uns als Protagonisten, Täter, Opfer (etc) zahlloser Geschichten erfahren können mit der Aussicht darauf, Sehnsüchte oder Befürchtungen zu verwirklichen und am Ende immer eine Verantwortlichkeit für unsere Ängste oder unser Begehren im Außen verorten zu können (seien es Personen oder Institutionen, sei es das "Schicksal", "Karma", ein liebender oder ein strafender Gott oder was auch immer). Es ist ein objekthaftes Denken, welches immer wieder voraussetzt, dass diese geistigen Gebilde - die Produkte unserer Projektionen - ein Eigenleben und deshalb Auswirkungen auf uns haben. Wir werden damit zu Magiern, die den Objekten ihrer Phantasie Leben einhauchen mit der Lebensenergie, die aus der Mitte unseres Seins zu kommen scheint. Und manchmal fragen wir uns sogar, wo diese Energie geblieben ist, weil sie scheinbar abhanden gekommen ist. Ein offener Blick auf unsere geistigen Objekte kann uns dann Aufschluss geben. Die Vikalpas bilden auf diese Weise die Welt der Dualität.

Wie wäre es aber nun, statt dessen mit der Wirklichkeit selbst identifiziert zu sein? Tantra hegt ein unbeugsames Interesse daran, die Wirklichkeit jenseits der Dualität zu ergründen und zu erfahren. 

Hierzu bedient sich der Tantra Yoga verschiedener Herangehensweisen, genannt Anupāya, Śāmbhava-upāya, Śākta-upāya und Ānava-upāya, die - vielleicht abgesehen von Anupāya - ineinander greifen und sich gegenseitig befruchten.

1. Anupāya

Dies ist die "Nicht-Methode", die nur der Vollständigkeit halber hier mit aufgeführt wird. Es ist die Methode der spontanen und unmittelbaren Erfahrung unserer göttlichen Natur. Vermutlich wird niemand, der/die davon betroffen ist, diesen Text lesen.

2. Tantra Yoga - Śāmbhava Upāya

Die Śāmbhava-Praxis zielt auf das unmittelbare Gewahrsein dieser Erfahrung ab. Eine Kernfrage dieser Praxis ist: "Was ist die Qualität dieses Augenblickes / dieses aktuellen Erlebens, bevor ich einen Gedanken darauf verwendet habe?" Oder auch z.B.: "Wer oder was bin ich ohne diese Themen (mit denen ich die ganze Zeit beschäftigt bin)?"

Gewahrseinspraktiken, wie Tattva Bhāvavā, Lasya Tandava oder Deep Rest sind hierauf ausgerichtet.

3. Tantra Yoga - Śākta Upāya

Diese Ebene der Tantra Yoga Praxis befasst sich mit der Transformation des Intellektes (Buddhi) von seiner unkultivierten, urteilenden Form hin zu seiner unterscheidenden, differenzierenden Form. Erkenntnisprozesse, Einsichtsmeditation (Vipaśyanā), Kontemplation (Bhāvāna) und die Kultivierung hilfreicher Vikalpas (Śuddhavikalpas) sind hier als Methoden anzusiedeln. Aber auch manche Aspekte der Mantra-Praxis finden sich hier, wenn es um die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Mantra geht.

4. Tantra Yoga - Ānava Upāya

Dies ist die körperliche Ebene der Praktiken, die sowohl den physischen, als auch den sog, "feinstofflichen" (sūkṣmaśarīra) Körper bzw. den "Energiekörper" (puryaṣṭaka) und auch den "Kausalkörper" (kāraṇaśarīra) umfasst.

Das Gewahrsein unseres Körpers und unseres Seins damit ist Ausgangspunkt und Ziel von Jīvanmukti und viele Methoden ranken sich darum. Entsprechend der Trika-Lehre verfügen wir über 4 Körper, wobei der erste nicht wirklich ein Körper ist, sondern vielmehr die Singularität, aus welcher alles hervorgeht (dennoch von manchen als "Superkausalkörper" benannt).

Der zweite ist der Kausalkörper, bestehend aus 3 sog. "Bindus", darunter werden Singularitäten verstanden, die den physischen Körper, den Energiekörper und die Bewusstheit hervorbringen.

Als drittes folgt der Energiekörper bzw. "feinstoffliche" Körper, der in Gänze aus dem Herzbindu (dem "blauen" Bindu, lokalisiert in der Körpermitte unterhalb des Brustbeinfortsatzes) hervorgebracht wird. Interessant vielleicht für manche mag sein, dass der Energiekörper von den alten Tantrikern als genau das betrachtet wurde, was wir heute unter "Psyche" verstehen. D.h., das Denken und das Fühlen entspringen damit jeweils dem Herzen und beides entspricht lediglich unterschiedlichen Ausprägungen ein und desselben Kontinuums. Demgegenüber wird hiervon die Bewusstheit unterschieden, die vom Kopfbindu hervorgebracht wird.

Als viertes folgt schließlich der physische Körper, der dem "roten Bindu" entspringt (ein Punkt im Bereich der Achse unseres Energiekörpers, etwa zwischen Sakrum und 3-4 Querfinger unterhalb des Bauchnabels).

Vor allem der physische Körper und der Energiekörper stehen in enger Wechselwirkung, wobei den Auswirkungen des Energiekörpers auf den physischen Körper mehr Bedeutung gegeben wird als andersherum.

Entsprechend der Verwirklichung aller Daseinsqualitäten finden sich im Tantra zahlreiche Praktiken auf diesen körperlichen Ebenen (wie z.B. dem Yoga der Berührung oder dem Tanz auf der physischen Ebene, Visualisations- und Mantra-Praxis (z.B. Uccāra) auf der Ebene von Energie- oder Kausalkörper).

Darüber hinaus gibt es weitere Praktiken, wie z.B. Guru- oder Gottheiten-Yoga, die - je nach Aspekt - dem einen oder anderen Upāya zugeordnet werden können (Götter und Gurus werden im nondualen Tantra übrigens grundsätzlich als Aspekte unserer selbst aufgefasst und nicht als ein Gegenüber. Wenn wir also im Tantra eine Gottheit verehren, würdigen wir damit eine Facette unserer Wesensnatur, die auch gleichzeitig dem gesamten Universums inhärent ist). Ein Großteil der bekannten Praktiken und Übungen entstammt entweder direkt aus dem Vijñāna Bhairava Tantra (s. kaschmirischer Shivaismus), oder kann daraus abgeleitet werden.

Was den Tantra Yoga, dieses "Verweben" und "Ausdehnen" des Wirklichen, in besonderem Maße ausmacht, ist das Nebeneinander und Ineinandergreifen vielschichtiger Ebenen, sowohl in Bezug auf die Praktiken, als auch hinsichtlich der Ordnungs- und Bezugssysteme. Während wir durch unsere Sozialisation meist mit einem objekthaften und linearen ("a+b=c") Denken identifiziert sind, liegt im nondualen Denken des Tantra die Betroffenheit immer auch im Subjekt, d.h. Erfahrender + Erfahrenes + Prozess des Erfahrens sind ein untrennbares Ganzes ("3+1" des Trika-Systems). So haben z.B. physischer Körper und Kausalkörper nur gefühlt erfahrbare Bezugspunkte, der Kausalkörper (Bindus) bringt einen Energiekörper (Chakren und Nadis) hervor der wiederum - je nach Bezugssystem - ganz unterschiedlich organisiert ist, über 5, 6, 7, 9 oder 12 Chakren verfügt etc.. Es gibt im Tantra Yoga nicht das eine konsistente Ordnungssystem. Es liegt in der Methodik und ist gewissermaßen "Teil der Lösung", dass es im Tantra praktisch unmöglich ist, eines objektivierbaren Verständnisses "habhaft" zu werden!

Näheres zu den Upāyas unter C. Wallis: "Licht auf Tantra" oder auch hier: tantrailluminated.org