Christopher Wallis: Licht auf Tantra
- (O.W. Barth, 2023)
"Licht auf Tantra" ist das z.Zt. wohl umfassendste Werk über das klassische, nonduale, kaschmirische Tantra, und überdies ist es in deutscher Übersetzung erschienen. Christopher Wallis führt hier in die Tiefen des non-dualistischen Shiva-Shakti-Tantrismus (NŚT) ein, auch als Trika-Linie oder kaschmirischer Shivaismus bekannt.
"Licht auf Tantra" ist auch die Übersetzung für "Tantrāloka", das umfassendste Kompendium der tantrischen Lehren, verfasst von Abhinava Gupta vor etwa 1000 Jahren. Die erstaunliche Leistung Abhinava Guptas bestand u.a. darin, die seinerzeit bekannten nondualen tantrischen Lehren (Vijñãna Bhairava Tantra, Shiva Sutras, Spandakarika, Kaulajnananirnayatantra) in seinem Tantrāloka zu einer Art Handbuch zu integrieren. C. Wallis hiesiges Werk ist gewissermaßen ein Handbuch zum Handbuch, ähnlich wie es im englischsprachigen Raum bereits andere solcher Versuche unter dem Namen "Light on Tantra" gab, z.B. von Swami Lakshmanjoo. In zeitgemäß pragmatischer und schnörkelloser Sprache und mit eingängigen Bildern und Vergleichen lässt Christopher Wallis die Aussagen Abhinava Guptas (und anderer zeitgenössischer Lehrer) in einem verstehbaren Licht erscheinen.
Auszug aus Licht auf Tantra:
"...Wenn sich dieses göttliche Bewusstsein aus eigenem freien Willen in endliche verkörperte Bewusstseinsorte zusammenzieht und diese endlichen Subjekte sich dann mit den begrenzten und fest umrissenen Erkenntnissen identifizieren, die diese Phase ihrer Existenz ausmachen, anstatt sich mit dem transindividuellen, übergreifenden Pulsieren reiner Wahrnehmung zu identifizieren, die ihre wahre Natur ist, erfahren sie das, was sie 'Leiden' nennen...."
Und hier erhellt "Licht auf Tantra" ein wenig das, was im Neotantra (s. -> Tantra-Philosophie) mitunter als "tantrischer Sex" beworben wird und manchem Anbieter von Erotikwellness zu denken geben könnte:
"... Das Ritual diente nicht dem Vergnügen …
Es gibt keine direkte Verbindung zwischen dem modernen neo-tantrischen Sex und dem sexuellen Ritual des ursprünglichen Śaiva-Tantra. Letzteres werden wir nun kurz beschreiben, damit der Unterschied auch glasklar wird. Das Ritual diente nicht dem Vergnügen! Es war in erster Linie ein Mittel zur Überwindung der für die indische Kultur spezifischen brāhminischen Vorstellungen von »Reinheit« und »Unreinheit« in Bezug auf das geltende moralisch-spirituelle Verständnis. Es gab zwei Versionen des transgressiven, also grenzüberschreitenden Rituals.
Die eine Version konzentrierte sich auf die sogenannten »fünf Juwelen«, diese Substanzen galten als ekelerregend und wurden bei der Einweihung vom Anwärter eingenommen. Sperma, Menstruationsblut, Urin, Kot und Schleim wurden in sehr kleinen Mengen verwendet und durch eine großzügige Portion Wein, der ebenfalls tabu war, schmackhaft gemacht. Dabei handelt es sich um die bei Weitem »unreinsten« Substanzen, die die indische Kultur kannte und bis heute kennt. Alles, was ursprünglich Teil des Körpers war und dann vom menschlichen Körper abgetrennt wird, galt aus brahmanischer Sichtweise als unrein und verunreinigend (nicht im Sinne von sauber, sondern als unangemessen, unwürdig und zutiefst verabscheuenswert). Ihr bewusster Verzehr wurde daher als Beweis dafür angesehen, dass der Praktizierende die kleinliche dualistische Vorstellung überwunden hatte, dass einige Dinge purer, reiner oder göttlicher seien als andere.
Die zweite Version des grenzüberschreitenden Rituals beinhaltete die Verwendung der »drei M«: Fleisch (māṃsa), Wein (madya) und außerehelicher Geschlechtsverkehr (maithuna). Das klingt zunächst schon eher nach Neo. Aber auch diese zweite Version des Ritus ist der ersten durchaus ähnlich und wenig attraktiv, wenn wir genauer hinschauen. Denn beide waren darauf angelegt, den Praktizierenden mit Substanzen und Handlungen zu konfrontieren, die im damaligen kulturellen Umfeld mit einem derartig massiven Grauen betrachtet wurden, wie sie sich ein heutiger moderner frei denkender Mensch kaum vorstellen kann.
… es ging darum, Grenzen zu überschreiten
Diese Art der Konfrontation war im Wesentlichen die Aufforderung, die nondualen Lehren in die Tat umzusetzen. Schließlich sind auch abstoßende Substanzen in Wirklichkeit Manifestationen desselben göttlichen Lichts, das in schönen Blumen, ästhetisch ansprechender Kunst und bezaubernden Babys erstrahlt. Schreckte ein Anwärter jedoch vor den »fünf Juwelen« zurück, galt das als Beweis dafür, dass er nicht wirklich mit Herz, Bauch und Verstand daran glaubt, dass alle Dinge gleichermaßen an demselben göttlichen Licht teilhaben. Auf den Protest, solche Bedenken seien rein hygienischer Natur, antworten Kaula Tāntrikas, »dass ein starker Energiekörper alles verdauen kann«.
Das Ritual der »drei M« scheint zunächst angenehmer zu sein als das der »fünf Juwelen«. Es wurde innerhalb der Kaula-Linien entwickelt, und diese Linie legt Wert auf sinnlich-ästhetische Schönheit. Aber der echte Sargnagel für diejenigen, die über den sogenannten tantrischen Sex fantasieren, ist folgender: Wie im Tantrāloka, Kapitel 29, klar festgelegt ist, muss der Partner im sexuellen Ritual jemand sein, zu dem man sich nicht hingezogen fühlt! Schließlich soll der Trieb des gewöhnlichen sexuellen Verlangens nicht die Oberhand gewinnen, denn das würde den befreienden Zweck des Rituals zunichtemachen. Aus diesem Grund wird generell jemand anderes als der eigene Ehepartner für das Ritual gewählt. Was für eine moderne und großzügige Auffassung von Ehe!
Gehört beispielsweise der Praktizierende einer hohen Kaste an, sollte der Partner einer niedrigen Kaste angehören. Hier geht es um die Herausforderung, das kulturelle Konstrukt zu überwinden, das zwischen Kaste und sozialem Status unterscheidet, denn der Ritus verlangt, seinen Partner als eine Inkarnation des Göttlichen zu sehen. Daher wurde beispielsweise einem hochgeborenen Brahmanen eine aus dessen Sicht möglichst »abstoßende« Frau beispielsweise der niedrigsten Kaste zur Partnerin gegeben.
Für Abhinava Gupta ist das kula oder sexuelle Ritual jedoch in erster Linie eine Form der Meditation. In der Tat argumentiert er, dass für den fortgeschrittenen Praktizierenden, der frei von jeder Lust ist, das kula ein direktes Mittel zur Befreiung sein kann..."
Derlei - auf den ersten Blick - für manche vielleicht schwer verdauliche Aussagen werden in "Licht auf Tantra" mit der Leichtigkeit und dem profunden Wissen eines tantrischen Meisters in liebevoller und vielfältiger Weise verstehbar gemacht.
Dieses Buch ist auch eine Einladung, dieses Wissen auf seiner Plattform tantrailluminated.org in der Tiefe zu erschließen.