Die vier Ebenen des Wortes
In der Trika-Tradition wird die Gesamtheit der Existenz als Ausdruck des "Höchsten Wortes" verstanden, und damit
sind auch alle Wesen gewissermaßen "fleischgewordenes Wort". "Im Anfang war das Wort", heißt es auch in der christlichen Tradition.
Für unsere Erfahrung von Wirklichkeit ist von grundlegender Bedeutung, daß Sprache, einschließlich ihrer hiermit einhergehenden kognitiven Prozesse, zwangsläufig zu einer Trennung in Subjekt ("Bezeichner") und Objekt ("Bezeichnetes") führt und damit Dualität schafft. Aus Sicht der Trika-Perspektive sind Bezeichner und Bezeichnetes die internalisierten und externalisierten Dimensionen des einen Bewusstseins, des "Höchsten Wortes", personifiziert als die Göttin Parā.
Die äußeren Erfahrungsobjekte und die inneren Ideen, die sie widerspiegeln, sind untrennbar miteinander verwoben. Es ist also nicht so, wie wir es vielleicht in der Schule oder anderswo gelernt hatten, dass lediglich die äußere Wirklichkeit unsere innere Welt formt. Vielmehr ist es ein wechselseitiger Prozess, und letztlich macht die Differenzierung in ein Innen und Außen auch nur aus der Perspektive eines individualisierten Bewusstseins Sinn.
Es kann die Frage aufkommen, wie es denn möglich sein kann, dass die Ideen der Innenwelt des Bezeichners scheinbar oft nur wenig mit der äußeren Welt der bezeichneten Dinge übereinstimmt, wo beide doch einen gemeinsamen Ursprung haben?
So gesehen, ist der Prozess unserer spirituellen Praxis nichts weiter, als die Anpassung unserer mentalen Konstrukte der Wirklichkeit (Vikalpas) an die tatsächlich, aus sich selbst heraus bestehende Wirklichkeit.
Die spirituelle Praxis (sādhanā) besteht letztlich darin, die Geschichten, die wir uns fortwährend über die Wirklichkeit erzählen, zugunsten der Realität aufzugeben, indem wir uns dieser Realität hingeben.
Hierzu formuliert die Trika-Schule eine Lehre von vier Ebenen des Wortes, die den Prozess beschreiben, durch den wir unsere Erfahrung von Realität konstruieren.
Die Vaikarī-Ebene
Vaikarī vāk ist die Ebene der alltäglichen Sprache, die auf der Ebene der Dualität funktioniert und in der die Wahrnehmung von Objekten des Erlebens vorherrscht. Jedes Wort erhält seine Bedeutung durch die Negation aller anderen möglichen Bedeutungen. Die gesprochene Sprache hilft unserem Verstand, die Realität in einzelne Teile zu zerlegen und dann zu operationalisieren. Die Realität wird dadurch zwangsläufig dualistisch und rein konzeptionell gesehen. Eine Welt getrennter Einheiten, die aufeinander einwirken.
Das sprachliche Symbol wird als Faktum betrachtet, es findet eine Verwechslung mit dem Dinglichen statt (eine "kognitive Fusion" aus Sicht der Psycholinguistik). Geschichten über die Wirklichkeit werden für bare Münze genommen. Dies führt z.B. zu allen Problemen in der Welt. Diese Vaikarī-Ebene der artikulierten menschlichen Sprache ist gleichzeitig die gröbste Ebene des Wortes. Sie wird dadurch geformt, wie wir denken, d.h., wie unsere gedankliche Wirklichkeit organisiert ist (Madhyamā-Ebene), und wie wir denken, wird geformt durch unsere tiefen und unbewussten Überzeugungen über die Wirklichkeit (Paśyantī-Ebene), die wiederum Ausdruck des göttlichen Bewusstseins (Parā) in seiner kontrahierten oder erweiterten Form ist.
Worte sind wichtig, sie wirken auf die Welt der Erscheinungen, die wir erfahren. Sie sollten daher mit Bedacht verwendet werden. Hierzu passt vielleicht ein Vers, der dem Talmud zugeschrieben wird:
"Achte auf deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
Achte auf deine Worte, denn sie werden zu Taten.
Achte auf deine Taten, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden zu deinem Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird zu deinem Schicksal.
Deshalb achte auf dein Schicksal, indem du auf deine Gedanken achtest."
Die Mahayamā-Ebene
Die zweite Ebene des Wortes, Mahayamā vāk, ist die Ebene des Denkens und des inneren Diskurses. Sie kann als Zwischenebene betrachtet werden, in welcher der Geist seine Gedankenkonstrukte formuliert. Sie besteht aus einer Mischung von Worten, Bildern, fragmentierten Sätzen und nur teilweise ausformulierten Ideen. Hier entstehen die Vikalpas, jene dualistischen Konzepte und Gedankenstrukturen, die den kontrahierten Geist, der mit ihnen identifiziert ist, formen.
Die Vikalpas sind letztlich Geschichten über die Wirklichkeit, die wir mit der Wirklichkeit verwechseln ("kognitive Fusion", s.o.). Sie sind von Natur aus fehlerhafte Darstellungen der Realität, und niemals die Realität selbst. Das Gewahrsein und die Berücksichtigung dieser Erkenntnis sind von grundlegender Bedeutung, will man sich nicht länger in unnütze Diskurse darüber verstricken und mehr über das Gewahrsein jenseits dieser geistigen Gebilde erfahren.
Der innere Diskurs der Madhyamā geschieht durch drei Aspekte geistigen Instrumentariums:
1. Im Intellekt (buddhi) nimmt er die Form von Überlegung, Kontemplation, Urteil und Imagination an. Hier setzen auch tantrische Praktiken an, die durch meditative Visualisierung (dhyāna) und Kontemplation (bhāvanā) die Madhyamā-Ebene ausrichten sollen.
2. Im denkenden und fühlenden Geist (manas) geschieht der Diskurs in Bildern, welche ihm die Sinne liefern.
3. Im Ego (ahañkāra) erscheint er als Selbstbezüglichkeit.
Die Vikalpas begrenzen zunächst unsere Erfahrung von Wirklichkeit. Durch die Kultivierung "verfeinerter", mit der Grundsignatur der Wirklichkeit übereinstimmender Gedankenkonstrukte (nirvikalpas, s.u.), können dem Geist jedoch Türen geöffnet werden (Dies erinnert mich an eine Aussage Bhante Selavansas, eines buddhistischen Mönches auf einem seiner Seminare: "Der ganze Buddhismus, das sind auch alles nur Konzepte. Es sind jedoch Konzepte, die das Denken zum Stillstand bringen.")
Die Paśyantī-Ebene
Auf der dritten Ebene, der Paśyantī vāk, erscheinen Gedanken und Gefühle vollkommen wortlos. Es ist die Ebene des präkognitiven Willens (icchā śakti). Es gibt hier keine Unterscheidung von Raum, Zeit und sinnlicher Erfahrung. Das Wort erscheint in einer sehr verdichteten, verborgenen Form. Auf dieser Ebene erscheinen die differenzierten, konzeptionellen Gedankenkonstrukte (Vikalpas) der Madhyamā-Ebene als sehr subtile, nicht-konzeptionelle Formen reiner Energie (nirvikalpas), die unterhalb der mentalen Ebene (also "unbewusst") wirken.
Sie sind tief verinnerlicht und haben fundamentale Auswirkungen auf unser Erleben. Dabei sind sie weder "gut" noch "schlecht". Alle frühen biografischen Konditionierungen, d.h. grundlegende präkognitive Regeln über das Bezogen-Sein zwischen "Ich" und "Nicht-Ich" (wie z.B. die Erfahrung von Getrenntheit und präkognitive Urteile und Regeln über Grundbedürfnisse und Gefühle) sind hier verortet, gewissermaßen am "Quell der Dualität". Hier ist das subjektive Bewusstsein vorherrschend und die Subjekt-Objekt-Differenzierung des gewöhnlichen Denkens kaum noch wirksam, weil alle verschiedenen Erfahrungsobjekte im Subjekt verinnerlicht wurden, die wir als Teil von uns selbst wahrnehmen. Je nachdem, wie unsere nirvikalpas beschaffen sind, führt dies zu höchst unterschiedlichen präkognitiv verwurzelten Überzeugungen über die Realität. Sie sind machtvoll, auch weil sie wortlos sind und unmittelbar mit unserem Selbstgefühl verbunden ("Identität").
Die Paśyantī wird auch "visionäre Ebene" genannt, weil die hier tief verankerten Muster unsere Sicht auf die Realität bestimmt und sich so auf Madhyamā und Vaikharī auswirkt. Eine dauerhafte Veränderung im Erleben ist nicht möglich, wenn diese Ebene mit der Praxis nicht erreicht wird. Und die Praxis hat zum Ziel, die Muster in den Tiefen des individuellen Seins mit der Wirklichkeit selbst, sozusagen dem "Urgrund des Seins" in Einklang zu bringen.
Hier wird es schwierig: Wie erkennen wir eine Ahnung, die aus tiefer intuitiver Einsicht der Wirklichkeit aufsteigt und unterscheiden sie von einer Ahnung, die durch unbewusste Programmierung z.B. im Zuge kindlicher Entwicklungstraumata entsteht? Beides kann uns gleichermaßen als zwingend, z.B. als "Bauchgefühl" erscheinen, und wir spüren beides im Herzen. Beides ist Paśyantī, wobei die tiefe Intuition der Parā, diesem "Urgrund des Seins", und die Ahnung aus unbewusster Programmierung dem Ego und seiner Konditionierung entstammt.
Aus diesem Grunde sollten wir in freundlicher Weise unserem Bauchgefühl misstrauen. Eine Prüfung kann durch das Infrage-Stellen der tiefen Ahnung erfolgen: die tiefe Konditionierung führt dann zu einer Reaktanz des Verstandes, der sie rechtfertigt und verteidigt, die tiefe Intuition bleibt einfach still.
Das Einwirken auf die Paśyantī-Ebene erfolgt durch drei Praktiken:
1. Auf der Madhyamā-Ebene hilfreiche Gedankenkonstrukte kultivieren (suddhavikalpas), die stark genug werden, um den Weg in die Paśyantī-Ebene zu finden und dort zu befreienden Nirvikalpas werden, z.B., indem man den Geist mit tiefgründigen, nährenden Texten und Lehren "tränkt".
2. Achtsamkeitsmeditation in Form einer Gewahrseinspraxis im Sinne des Mahāmudrā. Durch die tiefe, freundliche Erlaubnis, alles zu erfahren, was erfahren werden will, können alle geistigen Gebilde und unbewussten Eindrücke (Samskāras) in einem heilsamen Licht gesehen werden, und der Geist wird damit vertraut, sich nicht länger mit ihnen zu identifizieren.
3. Mantra-Wiederholung: Beginnend auf der Vaikharī-Ebene, wird das Mantra zunächst nur "äußerlich" eingeübt, dadurch wird ihm Raum und Bedeutung gegeben. Daraufhin findet durch die gedankliche Beschäftigung mit dem Inhalt eine tiefere Verinnerlichung auf der Madhyamā-Ebene statt. Schließlich durchdringt das Mantra in heilsamer Weise (ähnlich einem Suddhavikalpa) die Paśyantī-Ebene und vermag hier, jene Nirvikalpas zu nähren, die mit der Signatur der zugrunde liegenden Wirklichkeit der Parā-Ebene übereinstimmen.
Die Pará-Ebene
Das "höchste Wort", der namenlose Grund des Seins, der alle vorgenannten Ebenen beinhaltet.