Neotantra - Vereinnahmung eines Begriffes

Dirk Schirok

Neotantra - die Kaperung eines BegriffsWas manchmal wirklich verwirrend sein kann, ist, dass heutzutage die meisten und auch die größten Anbieter von Tantrakursen hierzulande und anderswo inhaltlich nicht wirklich Bezug auf das Wissen der tantrischen Traditionen nehmen, jedoch immer wieder andeuten, dies zu tun, wenn von Chakren, Mantren und Praktiken die Rede ist oder wenn erklärt wird, was Tantra sei. Diese Bewegung wird auch "Neotantra" genannt und prägt großenteils die öffentliche Wahrnehmung von Tantra. Nur sehr wenig von dem, was im Neotantra zu den geschichtlichen und inhaltlichen Grundlagen und zur Praxis des Tantra gesagt und vermittelt wird, hat irgendetwas mit den ursprünglichen Tantras zu tun. Nichts, außer der Vereinnahmung eines Begriffes.

Tatsächlich nimmt Neotantra Bezug auf einen westlichen Okkultismus, dessen Anfänge sich bis vor das Jahr 1905 zurückverfolgen lassen.

  
 

Geschichte des Neotantra

Hier also die Historie: Während die nondualen tantrischen Linien, ihre Universitäten, Tempel und Schulen samt öffentlicher Förderung durch die Islamisierung des nördlichen indischen Subkontinents ab ewa 1200 n.Chr. weitestgehend ausgelöscht wurden, gingen ihre verbliebenen Anhänger*innen in den Untergrund und bewahrten dort die Lehren und das noch vorhandene Schrifttum (siehe auch -> kaschmirischer Shivaismus). Die Atmosphäre des Verschwiegenen, Vertraulichen und Bedrohten mag vielleicht zum Hauch des Geheimnisvollen beigetragen haben, der den Tantrabegriff umweht, obwohl Tantra zuvor über Jahrhunderte in großen Teilen Indiens in voller gesellschaftlicher Blüte stand und dort jedem frei zugänglich war. Aus den im damaligen öffentlichen Raum später noch sichtbaren Rudimenten entstanden zersplitterte Bewegungen und Strömungen, zu denen auch der Hatha-Yoga oder eine bengalische Schule zählt, die letztlich zum Ausgangspunkt des heute bekannten Neotantra wurde.

Um die vorletzte Jahrhundertwende hatte Pierre Bernhard, ein Geschäftsmann aus San Francisco, Geschichten eines bengalischen Einwanderers (ein Schüler jener bengalischen Tantralinie, die sich über die Zeiten gerettet hatte, nie eine größere Rolle spielte und sich mit dem Kaubjika-System und auch mit sexuellen Praktiken befasste) über Tantra aufgegriffen, die seine Vorstellungen so weit beflügelten, dass er eine erste Zeitschrift darüber herausbrachte, die jedoch wohl das Erdbeben von 1906 nicht überlebte. Pierre Bernhard, auch genannt "Oom, the Omnipotent", wurde in der Folgezeit zum Angelpunkt einiger Skandale und verbrachte seine letzten Jahre als Yoga-Lehrer unter Beobachtung des Hoover-FBI.

Dieser Okkultismus wurde daraufhin genährt durch allerlei Fantasien und oft sehr kreative Konzepte (wie etwa, dass "die Kundalini" ähnlich einer im Steißbeinbereich aufgerollten Schlange sei, die aufsteigen müsse und dass es 7 Chakren gebe, denen mantrische Silben und psychologische Eigenschaften zugeordnet seien. Auch das Maithunā Vereinigungs-Ritual etwa wird im Neotantra romantisch verklärt und vielfach erwartungsvoll aufgeladen) und zuletzt durch den Philosophen Bhaghwan Shree Rajneesh (später nur noch "Osho"="Lehrer"), der Bewegungen, wie die Atemarbeit nach Wilhelm Reich, Bioenergetik und ganzheitliche Körpertherapien (z.B."Rolfing") in seiner Schule unter dem Label "Tantra" verbreitete. Osho, ein sehr charismatischer und informierter Professor der Philosophie, stand nicht in der Tradition irgendeiner tantrischen Linie. Dies hatte ihn dennoch nicht daran gehindert, in impressionistischer Weise eine freie Interpretation des Vijñāna Bhairava Tantra zu verfassen (dem ältesten, schriftlich überlieferten Tantra), worauf sein umfangreichstes Werk, das "Buch der Geheimnisse" fußt. Er hätte hierfür auch Rilke als Vorlage nehmen können, ohne dass dies zu einem nennenswert geringeren Nutzen für Verständnis und praktische Anwendung des VBT geführt hätte. Dies beruht auch darauf, dass er die von Paul Reps romantisch ausgeschmückten Kommentare Swami Lakśmanjoo's zum Vijñāna Bhairava Tantra statt einer Originalübersetzung als Vorlage benutzte. Es folgte eine unüberschaubare Fülle an weiteren Entwicklungen, unter anderem auch die "Tantramassage", die Erfindung eines deutschen Osho-Schülers und heutzutage für viele ein Synonym für Tantra, obwohl eine solche Methode nirgendwo im klassischen bzw. kaschmirischen Tantra auftaucht.

Auch Begriffe, wie "rotes", "weißes" und "schwarzes" Tantra, die verschiedentlich der inhaltlichen Abgrenzung und Klärung dienen sollen, kommen in den geschichtlichen Wurzeln des Tantrismus nicht vor. Sie stehen vielmehr für eine Systematik des Neotantra.

 

Die Vereinnahmung einer spirituellen Tradition

Es soll hier nicht behauptet werden, dass Neotantra-Praktiken unsinnig und wirkungslos seien. Es spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, neue Methoden zu entwickeln und zu vermitteln, wenn sie für die Entfaltung von Glück, Erkenntnis und erlebter Freiheit hilfreich sind. Und man könnte sagen, Neotantra hat mit viel Kreativität und einem pragmatischen "Verweben" vielfältiger Methoden mittlerweile eigene Traditionen geschaffen. Die damit verbundenen Herangehensweisen sind jedoch nicht das, was sie oft zu sein vorspiegeln, und daher sollte man sie ehrlicher Weise auch "Neotantra" oder - besser noch - ganz anders nennen, anstatt sie mit dem Nimbus einer über viele Jahrhunderte entwickelten spirituellen Kultur zu dekorieren und als Tantra zu verklären. Dies könnte den Begriff "Tantra" endlich aus seiner falschen Vereinnahmung befreien und es wäre so vielleicht leichter, sich dem zuzuwenden, wofür er steht. Auch würde es weniger den Blick verstellen auf das, was Neotantra tatsächlich anzubieten hat, wie vor allem eine mögliche Bereicherung des Sexuallebens.

Tatsächlich wird dies, zumindest in letzterem Sinne, auch zunehmend so gehandhabt, und Neotantra wird nun - in vollkommener Unwissenheit über den zugrunde liegenden Gegenstand und gleichzeitig einem pragmatischen, kommerziellen Imperativ folgend - mehr und mehr als ein dem klassischen Tantra überlegener - weil scheinbar zeitgemäßerer - Markenbegriff installiert, dabei stets auf der atmosphärischen Welle eines andeutungsvollen Nimbus surfend, der sich aus etwas gänzlich anderem nährt.

Wer also das Vorbeschriebene sucht, wird im Neotantra wohl fündig. Und wird mit gewisser Wahrscheinlichkeit bald auch den Eindruck gewinnen, dass es nicht ganz das ist, was er/sie eigentlich sucht und so den Tantrabegriff möglicherweise weiter diskreditieren. Das hat damit zu tun, dass wir letztlich - bei aller Praxis der Glückseligkeit - nicht in der Sexualität "erwachen" können, weil wir soviel mit Sex befasst sind und darin etwas suchen, was weitaus größer ist. Sexuelle Praktiken sind vielleicht ein Finger, der auf den Mond zeigt, sie sind jedoch nicht der Mond. Und nein, um hier einen Mythos mit dem Boden der Tatsachen in Kontakt zu bringen: es gibt keinen tantrischen Sex, auch wenn dies das Kerngeschäft des Neotantra betreffen mag. Nochmal: Tantra und Neotantra haben praktisch nichts miteinander zu tun! "Tantrischer Sex" ist nichts als die Vermarktung einer mythisch aufgeladenen sexuellen Fantasie. Es ist nichts dagegen zu sagen, Spaß an soetwas zu haben, es hat nur nichts mit Tantra zu tun.

 

Der Hauch des Geheimnisvollen

Bei alledem scheint es auch den Hauch des Geheimnisvollen und des "geahnten Göttlichen" zu benötigen, um Neotantra für viele interessant zu machen. Letztlich ist dies auch Ausdruck einer tief in uns gründenden Sehnsucht und Ahnung, die damit angesprochen wird. Und Neotantra-Kurse in großen Gemeinschaften, aufgeladen mit der Verheißung des Eintauchens in ein überindividuelles, grenzensprengendes göttliches Sein, sei es an atemberaubenden mediterranen Orten oder in traumhaft-verschwiegenen tropischen Resorts, befeuert und berauscht von Tanz, sinnlicher Erotik und berührender Offenheit im Miteinander können wahrlich schnell Lust auf mehr machen! Und zu der Illusion verleiten, in diesem Erlebniszustand "ankommen" zu können, wenn nur genügend Kurse besucht wurden. Es ist die Illusion, spirituelle Objekte sammeln zu können, um damit das "spirituelle Ego" in eine Art höheren Stand zu versetzen.

Dem liegt die unbewusste Annahme zugrunde, dass wir nicht bereits das sind, was wir sein wollen und ein passend designtes Außen uns von unserem ungeliebten Ego befreien oder dieses zumindest transformieren wird. Dies wird jedoch nicht geschehen. Warum nicht? Weil wir dieses Ego erst einmal als das erkennen und würdigen müssen, was es ist, anstatt zu versuchen, sich davon zu befreien. Und dies können wir natürlich nur aus der Warte dessen heraus tun, was wir sind. Und weil es einer täglichen Praxis bedarf, um hierzu in der Lage zu sein, zumindest für die allermeisten von uns. Wir müssen hierzu unseren Erlebnisapparat grundlegend neu ausrichten und unseren Geist mit den tantrischen Lehren "marinieren", um diesen Blickwinkel zu erlangen (s. auch Bhāvana & Darśana). Dafür reicht es aus tantrischer Sicht nicht aus, auf ein paar tief berührende Seminarerfahrungen zurückzuschauen, denn wir können nicht in einer Erinnerung leben.

Es macht Sinn, sich über die Motive bewusst zu werden, die unserem Interesse an Tantra bzw. unserer Tantrapraxis zugrunde liegen - und diese Selbsterforschung ist gleichzeitig auch schon wieder Teil der tantrischen Praxis, siehe auch -> hier. Je nachdem, auf welche Motive unsere Bemühungen ausgerichtet sind, bringen sie letztlich unterschiedliche Früchte hervor. Und genau dies lässt Tantra und Neotantra wie zwei völlig verschiedene Welten erscheinen, wenngleich die nonduale Wirklichkeit diesbezüglich keine Unterschiede kennt. Aufgrund der dem Neotantra immanenten Motivlage (einen Mangel im Selbsterleben reparieren bzw. "heilen", Vergnügen oder besondere Erlebnisse suchen oder Macht und Kontrolle über andere auszuüben, z.B. um das eigene Ego zu nähren) verfügt Neotantra - bei allem verheißungsvollen Ambiente - jedoch nicht über das Potenzial, ins Gewahrsein der nondualen Wirklichkeit zu führen.

Auch wenn Sex und sinnliche Erotik im Tantra nicht wirklich eine bedeutende Rolle spielen, so kann es für den spirituellen Prozess dennoch sehr hilfreich und nährend sein, sinnliche Erfahrungen im Miteinander zu machen, wie dies z.B. in der kaschmirischen Massage geschieht. Und es ist wundervoll, in der Gemeinschaft sich selbst im oder am Anderen zu erfahren, gemeinsam zu lernen und zu verstehen, dass die Identifikation mit dem Körper nichts als eine Illusion ist.

Auch die alten tantrischen Meister haben die Methoden des klassischen Tantra irgendwann einmal neu entwickelt, als sie die Pfade des Buddhismus, des Brahmanismus, der Upanishaden und den Patañjali-Yoga hinter sich ließen. Wir können jedoch darauf vertrauen, dass die Motive dieser alten Tantriker über Jahrhunderte von der unbeugsamen Absicht geleitet waren, die Wirklichkeit zu ergründen und sich dem vollkommen zu widmen. Und so interessieren im Tantra weniger die "besonderen" Erfahrungen oder Fragen der sexuellen Erfülltheit, als vielmehr das Ankommen im Gewahrsein unserer Wesensnatur. Es erscheint daher äußerst lohnenswert, sich diesem Wissen zuzuwenden.

Dennoch möchte ich an dieser Stelle auch eine Lanze für Neotantra brechen. Neotantra spielt mit einer Atmosphäre, die viele fasziniert und anzieht und eine Ahnung wecken kann im Sinne von "da ist noch viel mehr...", dass es also eine Tür zu etwas Wundervollem sein könnte. Und auch, wenn Neotantra am Ende nicht über das Potenzial verfügt, uns zu dem hinzuführen, worauf es mit dieser Inszenierung eines Nimbus hinweist, so war - oder ist es - für viele, mich selbst eingeschlossen, eine Art Fingerzeig auf den Mond, der sonst vielleicht gar nicht erst ins Blickfeld geraten wäre. Aus nondualer Sicht könnte man sagen, das Bewusstsein nutzt hierdurch einen Weg, sich mitzuteilen und zu offenbaren.

Aus der Sicht des kaschmirischen Tantra gibt es nur ein Bewusstsein, das all seine Objekte und Subjekte hervorbringt, nährt, reabsorbiert, diese Wirklichkeit verschleiert und wieder offenbart. Ein ständiger Kreislauf in 5 Akten. Und - so gesehen - entspricht die Vereinnahmung des Tantrabegriffes durch Neotantra genau genommen dem "4. Akt des Bewusstseins", nämlich der Verschleierung, mit der die Wirklichkeit sich dem Gewahrsein entzieht. Der "5. Akt" ist dementsprechend die Offenbarung.

Möge dieser Text dem 5. Akt zugute kommen.

Om - die Bewusstheit in 5 Akten

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