Die Tantra-PhilosophieSri Yantra - Tantra Yoga - Praxis und Philosophie

Tantra ist weitaus mehr, als Kurse über Sexualität, Lifestyle und Persönlichkeitsentwicklung. Tantra kennt keine Grenzen, genauso, wie die Wirklichkeit sich keine Grenzen setzen lässt. Denn sie besteht aus sich selbst heraus, passt in kein Konzept und deshalb kann sie nur erfahren werden. Und sie beinhaltet weit mehr, als Antworten auf Fragen nach einer erfüllenden Sexualität.

 

Begriffsklärung "Tantra"

Was bedeutet eigentlich der Begriff? Das alte Sanskrit-Wort "Tantra" bedeutet ursprünglich nichts weiter, als "Lehre", "Theorie" oder schlicht "Buch" und bezog sich auf Texte (sog. "Tantras"), die in Indien ab dem 6.Jh. n.Chr. erschienen sind und in den nachfolgenden 1000 Jahren in großer Zahl verfasst wurden. Jedes Tantra stellt ein eigenes, weitgehend vollständiges System der spirituellen Praxis dar. Praktizierende hätten sich also damals vielleicht gegenseitig gefragt: "welchem Tantra folgst du?"

Der Begriff "klassisches Tantra" bezeichnet somit den eigentlichen Wesenskern des Tantra. Weitgehend synonym werden hierfür auch Begriffe, wie "kaschmirischer Tantrismus" oder "kaschmirisches Tantra" verwendet, insofern die großen kaschmirischen Meister maßgeblich zur Entwicklung der Philosophie und Praxis des klassischen Tantra beigetragen haben. Allerdings spricht auch manches dafür, dass die gegenwärtige Popularität des "kaschmirischen Tantra" in der Tantraszene zumindest teilweise auch dem Wirken Daniel Odier's zuzuschreiben ist (s. kaschmirischer Shivaismus).

 

Neo Tantra

Was für manche verwirrend sein mag, ist, dass heutzutage die meisten und wohl auch größten Anbieter von Tantrakursen hierzulande und anderswo inhaltlich nicht wirklich Bezug auf das alte Wissen nehmen, jedoch immer wieder behaupten, dies zu tun, wenn von Chakren, Mantren und Praktiken die Rede ist. Diese Bewegung wird auch "Neo-Tantra" oder kurz "Neo" genannt und prägt großenteils die öffentliche Wahrnehmung von Tantra. Praktisch nichts, was im Neo-Tantra zu den geschichtlichen Grundlagen des Tantra gesagt wird, hat irgendetwas mit diesem alten Wissen zu tun.

Tatsächlich nimmt diese Bewegung Bezug auf einen westlichen Okkultismus, dessen Anfänge sich bis zum Jahre 1905 zurückverfolgen lassen, als Pierre Bernhard, ein Geschäftsmann aus San Francisco, Geschichten eines bengalischen Einwanderers über Tantra aufgegriffen hatte, die seine sexuellen Fantasien so weit beflügelten, dass er eine erste Zeitschrift darüber herausbrachte. Dieser Okkultismus wurde daraufhin genährt durch spirituelle Fantasien und Konzepte (wie z.B., dass die "Kundalini" ähnlich einer im Sakralbereich aufgerollten Schlange sei, dass es 7 Chakren gebe, denen mantrische Silben oder psychologische Eigenschaften zugeordnet seien etc.) und zuletzt durch den Philosophen Bhaghwan Shree Rajneesh (später nur noch "Osho"="Lehrer"), der Bewegungen, wie die Atemarbeit nach Wilhelm Reich, Bioenergetik und ganzheitliche Körpertherapie ("Rolfing") in seiner Schule unter dem Label Tantra verbreitete. Es folgte eine unüberschaubare Fülle an weiteren Entwicklungen, unter anderem auch die "Tantramassage", die Erfindung eines deutschen Osho-Schülers und heutzutage für viele Synonym für "Tantra", obwohl eine solche Methode nirgendwo in den alten tantrischen Traditionen vorkommt.

Auch Begriffe, wie "rotes", "weißes" und "schwarzes" Tantra, die verschiedentlich der inhaltlichen Abgrenzung und Klärung dienen sollen, kommen in den geschichtlichen Wurzeln des Tantrismus nicht wirklich vor. Sie stehen vielmehr für eine Systematik dieser neuen Entwicklung.

Es soll hier nicht behauptet werden, dass all diese Neo-Tantra-Praktiken unsinnig und wirkungslos seien. Es spricht nichts dagegen, neue Methoden zu entwickeln und zu vermitteln, wenn diese zu segensreichen Effekten führen. Diese Praktiken sind nur in vielerlei Hinsicht nicht das, was sie zu sein vorgeben, und vielleicht sollte man sie daher besser ehrlicherweise auch ganz offiziell "Neotantra" o.ä. nennen, anstatt sie mit dem Nimbus einer etablierten spirituellen Tradition zu dekorieren. Dies würde weniger den Blick verstellen auf das, was Neotantra tatsächlich anzubieten hat, wie insbesondere eine mögliche Bereicherung des Sexuallebens. Es kann ja durchaus sehr schön sein, in achtsam- und respektvoller Weise im Miteinander sehr bewusste sinnliche Erfahrungen zu machen, wie dies z.B. in der kaschmirischen Massage, dem "Yoga der Berührung" geschieht..

Auch die alten Meister haben die Methoden des klassischen Tantrismus irgendwann einmal neu entwickelt (und wenn hier und da angeführt wurde und wird, das bestimmte tantrische Quellen, wie die Śiva Sutras, göttlichen Ursprungs seien, so trifft dies den Kern nondualen Denkens!). Wir können jedoch davon ausgehen, dass die Motive dieser alten Tantriker von der unbeugsamen Absicht geleitet waren, die Wirklichkeit zu ergründen und sich dem vollkommen zu widmen. Es ging also weniger um eine Jagd nach "besonderen" Erfahrungen und auch nicht um Fragen der sexuellen Erfülltheit. Aus unserer Sicht ist es daher äußerst lohnenswert, sich diesem alten Wissen zuzuwenden.

Und auch dies will ich hier erwähnen - um ehrlich zu sein, bin ich selbst erst durch Neotantra darauf aufmerksam geworden, dass es soetwas wundervolles wie Tantra überhaupt gibt!

 

Ausdehnung

Wie kam es aber nun zu der heute vorherrschenden Interpretation des Begriffs "Tantra" im Sinne von "ausdehnen / verweben"? Etymologisch finden sich die Wurzeln "Atan" (ausbreiten, ausarbeiten, erweitern") und "Atra" (retten, schützen), was schnell auch zu dieser allgemeineren Interpretation führen kann: Tantra ist ein Werkzeug (tra), welches der Ausdehnung (tan) von Weisheit dient. Und es sind diesbezüglich sowohl Tantras mit dualistischer Ausrichtung (die also Gott als ein Gegenüber betrachten), wie auch non-dualistischer Ausrichtung (wie der Trika bzw. dem kaschmirischen Tantrismus oder auch im tibetischen Buddhismus) verbreitet worden. 

"Ausdehnung" nach nicht-dualistischem Verständnis bedeutet hier tatsächlich, sich ausdehnen zu dem, was ist, was wir wirklich sind. Hierzu dienen Praktiken (Upāyas), die Gott in ihrer/seiner kontrahierten Form des begrenzten und anhaftenden Ego ins Gewahrsein setzen.

Wenn wir einen tantrischen Weg gehen, ahnen wir sehr schnell, dass unsere bisherigen Gewissheiten und Konzepte, Glaubenssätze und Anhaftungen uns nicht weit tragen. Genau genommen haben sie uns nie getragen, wir dachten es nur. Sie sind ein Provisorium, nicht mehr. Geistige Gebilde, nicht die Wahrheit über die Wirklichkeit. Oder, wie es vielleicht Christopher Wallis ausdrücken würde: Shiva hat sich in ein Konzept, in eine Identifikation hineinkontrahiert und musste dafür notwendigerweise alles andere von sich selbst ausblenden, denn andernfalls wäre eine Identität, die nicht alles umfasst, nicht möglich. 

Wenn wir dann also weitergehen auf einem spirituellen Pfad, der Anhaftungen an Vorstellungen hinter sich lässt, stellen wir irgendwann fest, dass wir eine Art "Point of no Return" hinter uns gelassen haben und nicht in etwas zurückkehren können, das wir als etwas erkennen, das immer schon Illusion war, während wir gleichzeitig ahnen, daß es auch keinen Sinn macht, einen alten Glauben durch einen neuen zu ersetzen. Das Ich, identifiziert mit seinen Selbstkonzepten, versucht dann mitunter tapfer, sich an irgendetwas Belastbarem festzuhalten und ist da oft ausgesprochen hartnäckig und findig. Nichts von alledem ist am Ende jedoch überzeugend, wenn wir auf dem tantrischen Weg einmal den Geschmack der Freiheit gekostet - oder, genau genommen, uns daran erinnert - haben.

 

"Inneres Kind"

In gewisser Hinsicht ähnelt das Zurücklassen unserer Anhaftungen an Gewissheiten auch dem Zurückblicken auf unsere Familie und unsere kindliche Sozialisation beim Erwachsen-Werden. Wir bemerken, dass wir nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben, und auch an vieles andere glauben wir nicht mehr, was einst Gewissheiten für uns waren. Wir erkennen, dass wir in Schule und Familie eine Art "Starter-Kit", eine Erstausstattung für's Leben, mit auf den Weg bekommen haben. Und ab jetzt ist es an uns, was wir glauben wollen und letztlich für unser Leben verantworten müssen. Denn da ist niemand anderes, der / die die Deutungshoheit darüber hat. Dies ist übrigens einer der Gründe dafür, dass im Tantra immer wieder gern das "Innere Kind" zum Thema wird, denn hier kommen wir immer wieder in Kontakt mit tief in unserem Erlebnisapparat verankerten Prägungen i.S. von Urteilen und Glaubenssätzen über uns selbst, die Welt, das Leben und unsere Rollen darin (Vikalpas). In dieser Hinsicht verfügt Tantra über ein enormes befreiendes und letztlich "therapeutisches" Potenzial.

Anders jedoch, als Therapie, verfolgt Tantra keine Teleologie im Sinne einer Heilungsintention. Denn es kann nicht geheilt werden, was bereits perfekt ist. Das, was anderswo "Heilung" genannt wird (im Sinne der Reparatur einer im Selbsterleben objektivierten Beschädigung oder im Sinne der Auffüllung eines erlebten Mangelzustandes) entspricht im non-dualen Denken letztlich der Ausdehnung der Identifikation bis hin zur Identität des Shiva-Bewusstseins. Das, was anderswo vielleicht "Psychotherapie" genannt wird, geschieht im klassischen Tantrismus eher nebenbei durch das Ablegen einer Identifikation mit einer Geschichte. Näheres hierzu findest du auch bei Christopher Wallis:  https://hareesh.org.

 

Spirituelle Denksysteme

Der Blick auf das Denken, auf die Konzepte und anderen geistigen Gebilde, unterscheidet sich im klassischen Tantra  nicht wesentlich von der Perspektive anderer non-dualistischer Denksysteme, wie z.B. dem Buddhismus oder dem Vedanta, zumindest nicht hinsichtlich ihrer illusionären Natur. Jedoch haften die meisten dieser spirituellen Denksysteme - abgesehen von wenigen, wie dem tibetischen Buddhismus - der Vorstellung an, dass weltliche Begierden überwunden werden müssten, um den Geist zu befreien. Weil, wie uns früher oder später auffällt, das Begehren nur zu leidvollen Verstrickungen und zu Beunruhigung des Geistes führt, und weil kein ideelles oder materielles Phänomen uns glücklich machen kann (aus buddhistischer Sicht z.B. die "Leerheit" {anattaund die unbefriedigende Natur der Dinge {dukkha} aufgrund ihrer Vergänglichkeit {annica}). Deshalb wird der Körper in diesen Denksystemen gering geschätzt bzw. als illusionär betrachtet, weshalb es hier gilt, ihn zu "transzendieren".

Tantra hingegen kennt auch dahingehend keine Denkverbote und betrachtet das Begehren als einen Ausdruck unserer wahren Natur, ebenso wie unsere Körperlichkeit. Es ist nicht tranzendentalistisch. Auch die leidvollen Erfahrungen, die entstehen, wenn aus dem Begehren ein Greifen nach etwas wird, werden im Tantra als Ausdruck des Wirklichen bejaht. Letztlich geht es um das Gewahrsein der verkörperlichten Seele (Jīvanmukti).

Am Ende wird uns deutlich, dass es müßig ist, nach etwas zu greifen, was wir selbst sind. Oder, anders herum ausgedrückt: Gott hat keine Mühen gescheut, um genau das zu sein, was Du bist. Um sich in diese Identität hinein zu kontrahieren, die du bist, musste Gott alles andere Identifiziert-Sein mit was oder wem auch immer ausblenden. Alles in, mit und um uns ist somit Ausdruck des Göttlichen. Dies spiegelt sich auch wieder in der im Tantra viel weiter gefassten indischen Grußgeste "Namasté": "Ich ehre (bzw. grüße) das Göttliche in Dir in mir" (oder verneige mich davor).

Wenn Du zu Praxis und Philosophie des Tantra weiter in die Tiefe gehen magst, findest Du hier einige Grundlagentexte: 

Tantra, ein Kurs in Wundern, Dharma & Mahamudra  Tantra, ein Kurs in Wundern, Dharma & Mahamudra

kaschmirischer Shivaismus: Wurzeln des Tantra  Kaschmirischer Shivaismus

Kaschmirisches Tantra: Spandakarika - Gesang des Erschauerns  Der Gesang des Erschauerns

Fünfzehn Verse der Weisheit - Grundlagen des Tantra  15 Verse der Weisheit

Spiritualität - Pratyabhijna  Pratyabhijna

Spiritualität - Hsing Ming  Hsing Ming – Der Gesang vom Herz/Geist

Vajra Dakini  Huldigung an die Vajra Dakini 

Shiva Sutras - ein tantrischer Basistext  Shiva Sutras

Tantra, Sex, die Künste und das Leben  Tantra, Sex, die Künste und das Leben

 Die 3 Malas Die 3 Malas

  Die 4 Ebenen des WortesDie 3 Malas

Upāyas  Tantra Yoga - die Upāyas

Energiekörper  Der Energiekörper

Energiekörper  Mantra Yoga

 

... und hier einige weiterführende Literaturempfehlungen:

(für Rezensionen den jeweiligen Link klicken)

D. Odier: "Tantra Yoga. Der Weg zur höchsten Erkenntnis.", 2017, Theseus

D. Odier: "Das tantrische Erwachen. Begehren, Leidenschaft und Spiritualität.", 2020, Aquamarin

D. Odier: "Das entflammte Herz", 2020, Aquamarin

Osho: "Tantra. Die höchste Einsicht. Kommentare zum Tantra des tibetischen Buddhismus", 2017, Innenwelt Verlag

Osho: "Bewusstsein", 2004, Ullstein

D. Richardson: "Slow Sex - Zeit finden für die Liebe.", 2011, Integral

C. Titmuss: "The Buddha of Love. Essays on the Power of the Heart", 2015, lulu.com

Osho: "Der Traum von Mann und Frau", 2006, Innenwelt Verlag

M. Hellwig: "Radikale Erlaubnis. Energetischen Missbrauch erkennen und beenden", 2014

G.N. Klein: "Der Vagusschlüssel zur Traumaheilung", 2021

C. Wallis: "Licht auf Tantra. Die Philosophie hinter dem modernen Yoga:" 2023

C. Wallis: "Near Enemies of the Truth", 2023

M. Ricard, T.X. Thuan: "Quantum und Lotos: Vom Urknall zur Erleuchtung", 2008

K. Wilber: "Integrale Spiritualität", 2007