Kaschmirischer Shivaismus
Kaschmirischer Shivaismus war eine herausragende Entwicklung des alten Indiens. Er ist Ausdruck eines tief im Bewusstsein verankerten Drangs nach Selbsterkenntnis und fand seine Blütezeit etwa 600-1200 n.Chr. in der Gesellschaft des Tals von Kaschmir. Er wurde von den herrschenden Königshäusern oft umfänglich gefördert und die Herrschenden waren mitunter selbst Tantriker. Es entstanden Tempel, Schulen und Universitäten für Forschung und Lehre rund um die Bewusstheit und auch unzählige Schriften hierzu. All dies wurde mit der Invasion der Muslime, die jedwedes nicht-islamische Denken als schädlich betrachteten, zu Beginn des 13. Jh. und in den folgenden Jahrhunderten fast vollständig ausgelöscht.
Nur ein kleiner Teil der tantrischen Schriften wurde von den sog. Pandit-Familien, die mit dieser Aufgabe betraut waren, bewahrt und durch handschriftliche Kopien über die Generationen gerettet. Dabei entstanden einige Fehler, weil auch die meisten Angehörigen dieser Familien des Sanskrits nicht (mehr) mächtig waren. Erst mit den Sikhs zu Beginn des 19.Jh. und später den Engländern kam es wieder zu einer Förderung der Spiritualität in Kaschmir, und Sanskrit-Gelehrte machten sich daran, einen Großteil (wenn auch nicht alles) der Fehler in den Schriften des kaschmirischen Shivaismus zu korrigieren. Mit der Übergabe der englischen Kolonie an die hinduistische Regierung 1949 versiegte auch die Förderung, und in der Hoffnung auf eine Fortsetzung dieses Prozesses der Wiederbelebung der Schriften wurden diese an Universitätbibliotheken in der ganzen Welt weitergegeben, wo sie zunächt weiter verstaubten und ab den 60ern nach-und-nach wiederentdeckt und erforscht wurden.
Derweil gab es auch im seinerzeit bis etwa 1700 n.Chr. muslimisch beherrschten Kaschmir, sowie in anderen Regionen Indiens, ein paar wenige Linien, in denen die Lehren des kaschmirischen Shivaismus von den Meister*innen auf die Schüler*innen vertraulich weitergegeben wurden. Der letzte bekannte Guru der Trika-Linie (der maßgeblichen Tradition des nondualen kaschmirischen Tantra) war Swami Lakśmanjoo, der 1991 verstarb.
Kaschmirischer Shivaismus entstand, als Spiritualität im zeitgenössischen Indien weit überwiegend als ein aus den Veden rezitierter ritueller Formalismus verstanden wurde, der - ähnlich den Priestern der katholischen Kirche des Mittelalters und den Rockstars der Evangelikalen von heute - von brahmanischen Priestern institutionalisiert und zum Zwecke der Macht und der Pflege des Egos benutzt wurde. Zusammen mit den weltzugewandten Lehren der Bhagavad-gītā und dem von Buddha beeinflussten Patañjali-Yoga brachte der Shivaismus letztlich den kaschmirischen Tantrismus hervor.
Der Shivaismus, neben Shaktiismus und Vishnuismus eine der 3 Hauptströmungen im Hinduismus, entwickelte sich in der hinduistischen Gesellschaft als Unterströmung zu zahlreichen unterschiedlichen Erscheinungsformen, von der volksreligiös geprägten Verehrung eines personifizierten Gottes Śiva bis hin zu einem esoterisch-sektarischen Shivaismus, welcher der Einweihung durch einen Meister / eine Meisterin bedarf, von kultischer dualistischer bis hin zu yogischer oder tantrischer Praxis mit teils buddhistischen Einflüssen (ein Überblick hierzu findet sich z.B. bei Wikipedia).
Es finden sich Hinweise darauf, dass der kaschmirische Shivaismus über einige Jahrhunderte die dominierende Strömung in der indischen Spiritualität war und andere Richtungen, wie den Buddhismus durchdrungen und beeinflusst hat bis hin zum Hatha Yoga, der nach der Invasion der Muslime quasi aus seinen Rudimenten hervorgegangen ist. Entlang der Seidenstraße strahlte der kaschmirische Shivaismus hin bis nach Tibet, wo er den tibetischen Buddhismus maßgeblich inspiriert hatte.
Während spirituelle Denksysteme zwar grundsätzlich die Einswerdung bzw. das Einssein mit dem Göttlichen, d.h. die Aufhebung der Dualität zum Gegenstand haben, scheinen sie dennoch oft in der Idee zu verharren, d.h. entweder in der Philosophie und im Studium heiliger Schriften oder aber in einer rituellen yogischen Praxis, die manchmal sich selbst zu genügen scheint und nur rein theoretisch die Möglichkeit in Aussicht stellt, durch Anstrengung und Disziplin und vielleicht auch erst in einem späteren Leben ans Ziel zu gelangen und so irgendwann die Dualität zu überwinden. Dies gilt auch für für die shivaitischen Linien der sog. "rechten Hand", d.h. des dualistischen Shivaismus, wie z.B. dem Śaivasiddhānta (eine fundierte Übersicht zu all den shivaitischen Strömungen findest du in Mark Dyczkowski's "Die Schwingung des Bewusstseins"). Wenn im Folgenden von kaschmirischem Shivaismus die Rede ist, dann sind damit die nondualen Strömungen gemeint (d.h. der "Pfad zur linken Hand"), wovon die Trika-Linie die bedeutsamste ist.
Ein Gegenentwurf
Kaschmirischer Shivaismus stellt den nondualen Gegenentwurf zum Brahmanismus und dem institutionalisierten Verständnis von Spiritualität in der indischen Gesellschaft dar. Er hat klar zum Ziel, die Verwirklichung der Bewusstheit bereits in diesem Leben geschehen zu lassen, davon ausgehend, dass wir als fühlende Wesen nichts anderes sind, als kontrahierte Orte des Selbstgewahrseins dessen, was Gott genannt wird. Ebenso nimmt übrigens auch Mahāmudrā, die höchste Lehre des vom kaschmirischen Shivaismus geprägten tibetischen Buddhismus, den Ausgangspunkt bereits im Ziel. Es geht also nicht mehr darum, eine besondere Qualität von Bewusstsein hervorzubringen und spirituelle Errungenschaften zu erwerben, sondern schlicht darum anzuerkennen, dass wir bereits diejenigen sind, die wir sein wollen bzw. das sind, was wir sein wollen und dies vollkommen zu verkörpern. Es besteht aus dieser Sicht keine Notwendigkeit, sich Sorgen zu machen über das, was wir glauben zu sein (Vikalpas) oder über irgendwelche biografischen Themen und tiefen Konditionierungen (Saṃskāras) oder Phantasien über Mangel und Unzulänglichkeit. Manch ein Psychotherapeut könnte an dieser Stelle aufhorchen.
Aus dieser tantrischen Sicht erkennen wir, dass wir nicht nur die Inseln sind, die vielleicht einander sehen, aber immer getrennt bleiben müssen, sondern eine einzige Landmasse. Dass wir nicht nur der Fisch sind, sondern der ganze Ozean. Nicht nur der ganze Eisberg, sondern auch all das geschmolzene Wasser.
Das Ego mit seiner begrenzten Bewusstheit ist aus nondualer tantrischer Sicht also lediglich eine kontrahierte Form Gottes, und daher - aufgrund seiner begrenzten Wahrnehmung (die wiederum notwendig ist, um ein Individuum sein zu können, denn ohne Begrenzung der Wahrnehmung würde es alles umfassen und könnte kein separates Individuum mehr sein) naturgemäß immer im Irrtum über die Bedeutungen der Dinge. Alles, was wir glauben, existiert nur als Illusion. Auch der Glaube, im Gewahrsein der Wirklichkeit zu sein. Es sind nur Geschichten über die Wirklichkeit. Es ist also nicht notwendig, sich Sorgen zu machen über das, was wir denken und glauben. Auch ist es nicht notwendig, sich über die Objekte unserer Erfahrung zu sorgen, die wir mit emotionaler Energie aufladen und ihnen nur dadurch "Gewicht" geben.
Insofern beginnt kaschmirischer Shivaismus also bereits mit der Lösung. Genau genommen, hat es aus dieser Sicht heraus jedoch niemals ein Problem gegeben, denn alles ist bereits perfekt, weil alles Ausdruck des einen unteilbaren Göttlichen ist. Das Göttliche erscheint dabei mitunter auch sehr profan. Ein ausgeklügeltes System von tantrischen Praktiken (Upāyas) dient diesem Erkenntnisprozess.
Die Tradition der Trika, der Dreifaltigkeit, befasst sich im wesentlichen mit der Integration der Position des Wissenden (Wahrnehmenden), dem Prozess des Wissens (der Wahrnehmung) und dem Gewussten (Wahrgenommenen, bzw. auch: Subjekt - Verb - Objekt - ganz ähnlich übrigens dem christlichen "Vater - heiliger Geist - Sohn") und der Untrennbarkeit dieser Trinität ("3+1").
Der Begriff "kaschmirischer Shivaismus" ist in der heutigen Tantraszene recht populär, was teils wohl auch auf das Wirken des Schriftstellers und tantrischen Lehrers Daniel Odier zurückzuführen ist, der hier mit einem impliziten Anspruch auf Deutungshoheit in gewisser Weise mit dem Begriff ein romantisiertes Narrativ geschaffen hat, wobei er sich auf eine Quelle beruft, die nur ihm selbst zugänglich ist. Vieles davon, wie insbesondere seine Auslegung des Tandava-Tanzes oder die kaschmirische Massage findet sich so nicht in den schriftlichen Überlieferungen wieder, lässt sich mit gutem Willen allerdings daraus herleiten. Odier ist durchaus umstritten, siehe z.B. auch https://dancingdragon.co.za/tandava-takedown.
kaschmirischer Shivaismus und das Vijñāna Bhairava Tantra
Die älteste bekannte Verschriftlichung der Lehren dieser Zeit ist das Vijñāna Bhairava Tantra, das etwa im 8. Jh n. Chr. entstand. Es wird davon ausgegangen, dass ihm das heute als verschollen geltende Rudramayāmala vorausging. Für die zeitliche Verortung der Entstehung dieser Texte ist ohnehin zu berücksichtigen, dass sie zuvor über Jahrhunderte jeweils mündlich vom Meister auf den Schüler übertragen wurden.
Das Vijñāna Bhairava Tantra (VBT) spiegelt in 163 Versen einen Dialog zwischen Bhairavi (Parvati, der "Gemahlin" Śivas) und Bhairava (einer der Namen Śivas) wider, wobei Bhairavi, die als Göttin bereits über alle Antworten im Bilde ist, uns vorführt, wie man geschickt fragt, um zum Wesen der Dinge vorzudringen. Die Antworten Bhairava's bestehen in der Darlegung von 112 Lehren (upadeśa), aus denen großenteils meditative Praktiken (Yuktis) hervorgehen (übrigens sind es keine 112 Yuktis. Entgegen dem von Lehrern wie Osho geschaffenen Narrativ spricht das VBT nirgendwo von 112 Yuktis, sondern lediglich von 112 Lehren), wobei jede einzelne Lehre das Göttliche offenbart und jede Yukti sie uns erfahrbar macht. So führt bereits Yukti 1, eine einfache Kundalini-Praxis, zu tiefen Erfahrungen. Neben Kundalini-Yoga umfassen diese Yuktis die Uccāra-Praxis, Dhyana und Energiekörperarbeit, Lāya-Yoga, Vipaśyanā, Śāmbhava-Praxis u.a.m. (s. auch Tantra Yoga).
Das Vijñāna Bhairava Tantra wurde weitaus öfter kommentiert, als übersetzt, und so kommt es, dass viele Kommentatoren die Übersetzungen nur weniger Übersetzer*innen kommentierten, die sich teilweise selbst über ihre Auslegung des Sanskrit nicht immer ganz sicher waren, wie z.B. Śivopathyāya, dessen Übersetzung aus dem 17. Jh., also etwa 900 Jahre nach der ersten Verschriftlichung des Vijñāna Bhairava Tantra, viele mit missionarischem Eifer folgten. Und so wiederum kommt es, dass man z.B. in Osho's "Buch der Geheimnisse", in Daniel Odier's "Tantra Yoga. Der Weg zur höchsten Erkenntnis" oder bei Swami Lakśmanjoo jeweils sehr unterschiedliche Versionen und Auslegungen findet. Prominente Beispiele hierfür sind die o.g. kreativen Darstellungen des VBT durch Daniel Odier oder Osho, die beide weitestgehend auf der Version Paul Reps beruhen. Paul Reps war ein Schüler Swami Laksmanjoo's und interpretierte in sehr poetischer Weise die Kommentare Swami Laksmanjoo's zur VBT-Übersetzung von Bettina Bäumer (s. hierzu auch C. Wallis VBT-Blog). Swami Laksmanjoo hatte nie selbst etwas aus dem Sanskrit übersetzt. Dies alles mag dazu einladen, sich selbst ein Bild davon zu machen. Hier ein kleiner Exkurs.
Andere frühe Quellen zum Thema kaschmirischer Shivaismus werden zwischen dem 3.Jh. v.Chr. und dem 5.Jh n.Chr. angesiedelt.
Die sog. „große kaschmirische Linie“ begann dann im 8. Jh. mit Vasu Gupta, dem Verfasser der Śiva Sutras, der als erster das Vijñāna Bhairava Tantra und andere frühe Texte kommentierte, gefolgt von seinem Schüler Kallata, dem Verfasser des Spandakarika. Es folgte eine Linie von Übertragungen auf Utpala Deva, Lakśmana Gupta, Abhinava Gupta und Kśemaraja.
Abhinava Gupta (etwa 10.-11.Jh) integrierte die ihm seinerzeit vorliegenden 64 Tantras (bzw. "Agamas"= Offenbarungstexte) zu der Tantrāloka genannten Enzyklopädie (in etwa zu übersetzen mit "Aufklärung über" oder "Ausleuchtung des" Tantra), neben seinem Ergänzungswerk Tantrāsara dem heutigen Grundlagenwerk zum Thema kaschmirischer Shivaismus bzw. Trika.
Als weitere wichtige schriftliche Quellen des kaschmirischen Shivaismus gelten:
Die Śiva Sutras (Vasu Gupta)
Das Spandakarika (Kallata)
Das Pratyabhijnahrdayam (Kśemaraja)
Hinzu kam das Kaulajnananirnayatantra, das im 7.-8. Jh. von Matsyendranath in Assam geschrieben wurde. Matsyendranath begab sich seinerzeit mehrmals nach Kaschmir, um dort den Kaula-Pfad zu lehren und tantrische Gemeinschaften zu gründen.
Der Kaula-Pfad wurde später von Abhinava Gupta integriert, der sein Tantrāloka mit einer Hommage an Matsyendranath beginnt.
Das Kaulajnananirnaya-Tantra, noch vor den Śiva Sutras entstanden, gilt als Schlüsseltext, der aufzeigt, wie die frühen Elemente des Tantra mit seinen magischen, alchemistischen Praktiken und der Suche nach okkulten Kräften (Siddhis) zu einer wesentlich philosophischeren und absoluteren Sichtweise geführt haben, die den kaschmirischen Tantrismus ausmachen.
Abhinava Gupta integrierte die Abfolge der unterschiedlichen Schulen:
- Krama
Ein stufenweiser Ansatz, bestehend in Yoga-Disziplin, Mantren, Mandalas, Ritualen und der Stabilisierung des Atems
- Spanda
Stellt den dynamischen Aspekt des Bewusstseins in den Vordergrund und fokussiert auf Vibration und kosmisches Erschauern
- Pratyabhijna
Vertritt den absoluten Verzicht auf Praktiken und die Wiedererkenntnis des Selbst, die die Gesamtheit der Phänomene erfasst
- Kaula
Durch Vereinigung von Śiva und Śakti wird der Wiedererkenntnis des Selbst das leidenschaftliche Aufwallen hinzugefügt.
Der Kaula-Pfad empfiehlt den Verstoß gegen die brahmanischen Verbote (Alkohol, Fleisch, Körner, Fisch, sexuelle Vereinigung, die Kaschmiri wählten wohl meist jedoch nur Wein, Fleisch und sexuelle Vereinigung).
Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass kaschmirischer Shivaismus eine erhebliche Anziehung auf die Brahmanen und buddhistischen Mönche seiner Zeit ausübte, deren Gelübde und Traditionen den Genuss weltlicher Freuden weitestgehend verbot. Auch trug dies vermutlich in gewissem Maße zur Entwicklung des tibetischen Buddhismus bei, dessen Lehre der Mahāmudrā ("große Geste") starke Analogien zum kaschmirischen Shivaismus aufweist. Es ist jedoch auch sinnvoll zu berücksichtigen, dass der Genuss von Alkohol, Fleisch etc. in der damaligen indischen Gesellschaft keineswegs als lustvoll angesehen war. Dies galt als ekelerregend und abstoßend, und die alten Tantriker haben sich - im Gewahrsein ihrer eigenen tiefen soziokulturellen Konditionierung - darin geübt, dieses einschränkende gesellschaftliche Narrativ zu überwinden (interessanter Weise äußerte sich Swami Lakśmanjoo, ein bekannter kaschmirischer Meister des 20.Jh, in Bezug auf den Verzehr von Fleisch hier ausgesprochen moralistisch und betonte in diesem Zusammenhang das Anwachsen von Karma, obwohl Karma in der Nondualität nicht wirklich von Bedeutung ist). Auch das klassische tantrische Vereinigungsritual (Maithunā) war alles andere, als lustvoll. Es galt, sich mit einem Partner / einer Partnerin in Liebe zu verbinden, die / den man sexuell möglichst abstoßend fand. Dies ist wahrlich etwas für Fortgeschrittene!
Um die Anziehung des kaschmirischen Shivaismus auf die Religionen besser zu verstehen, ist es notwendig, sich klar zu machen, dass es einen ganz grundlegenden Unterschied im Verständnis von Wirklichkeit zwischen den hinduistisch-vedantischen sowie den meisten buddhistischen Denksystemen und dem Tantrismus gibt:
Für den Hinduismus und die meisten buddhistischen Pfade ist die Wirklichkeit illusorisch, und ebenso jener, der sie wahrnimmt, ist illusorisch. Damit erscheint es schnell sinnvoll, sich von Begehren und Emotionen zu lösen und alles „unbefeuert“ im Unendlichen des Nicht-Selbst ruhen zu lassen (Nirvana=„kein Feuer“), was als „Befreiung“, „Erwachen“ u.ä. angesehen wird. Demgegenüber betrachten die Tantriker die Welt als wirklich, weshalb es gilt, die Gesamtheit der sensorischen und emotionalen Erfahrungen zu würdigen und zu integrieren. Die Shivaiten betrachten das Begehren als absolute Bewegung, als schöpferischen Aspekt Śivas und nicht als Ausdruck von Mangel. Es macht gleichzeitig keinen Sinn, die Erfüllung im Greifen nach einem Element zu suchen, welches man selbst „ist“ und auf diese Weise das Selbst zu fragmentieren. Das Verweilen im Begehren, anstatt nach Objekten des Begehrens zu greifen zeichnet daher u.a. den Tantrismus aus.
Mit Blick auf den Buddhismus, dessen Denksystem auf den Seinsmerkmalen Annica (Vergänglichkeit, Unbeständigkeit), Dhukka (der unbefriedigende, leidvolle Charakter der Objekte des Begehrens) und Anatta (die Wesenlosigkeit bzw. Leerheit der Dinge, die ja -einschließlich des Ich- keinen „Wesenskern“ haben und nur auf bedingtem Entstehen beruhen) aufbaut, lässt sich feststellen, dass hier die Annahme besteht, ein Begehren sei nicht möglich, ohne nach einem Objekt zu greifen und damit eine Kaskade des Leidens auszulösen. Dies wiederum haben manche Buddhisten als Anhaftung an einen Glaubenssatz erkannt.
Während also die Einen die als Illusion geglaubte Wirklichkeit zum „Nicht-Selbst“ dekonstruieren, verbleibt für die Shivaiten und Tantriker nur das „Selbst“, das alles umfasst als Śiva in all seinen Manifestationen von Wirklichkeit (den 36 Tattvas).
Der Kurs in Wundern geht hier übrigens einen dritten Weg: Wiewohl auch hier die Welt als illusorisch betrachtet wird, verbleibt - ganz ähnlich wie im kaschmirischen Shivaismus - das Selbst als „Sohn Gottes“ bzw. als Gott, der seine Vaterschaft mit uns teilt.
Dirk Schirok