Pratyabhijña - die Lehre vom Wiedererkennen (Verse)

Im tantrischen kaschmirischen Shivaismus steht das Pratyabhijña als die Lehre vom Wiedererkennen des eigenen inneren Wesens (Pratyabhijña=„Wiederkennen“). Es ist ein Basistext des kaschmirischen Tantrismus und wurde im 9.Jh. von Utpaladeva niedergeschrieben und im 11. Jh. im Pratyabhijñahrdayam ("Herz der Wiedererkennungslehre")von Kśemarāja erläutert. Hier die Übersetzung der unkommentierten Verse.

Es ist nicht wirklich möglich, sich die Bedeutung und Tragweite dieser wundervollen Worte ohne Anleitung und fundierte Interpretation zu erschließen. Hierzu kann ich dir Christopher Wallis' "Recognition Sutras" sehr ans Herz legen.

 

1. citiḥ svatantrā viśva-siddhi-hetuḥ 

"Bewusstheit, frei und unabhängig, ist die Ursache für die Verwirklichung von allem."

 

2. svecchayā sva-bhittau viśvam unmīlayati

"Durch ihren eigenen Willen entfaltet die Bewusstheit das Universum auf der Leinwand, die sie selbst ist."

 

3. tan nānānurūpa-grāhya-grāhaka-bhedāt

"Es ist vielgestaltig, weil es in wechselseitig abgestimmte Subjekte und Objekte unterteilt ist."

 

4. citi-saṅkocātmā cetano 'pi saṅkucita-viśva-mayaḥ

"Das individuelle bewusste Wesen verkörpert als eine Kontraktion des universellen Bewusstseins das gesamte Universum in mikrokosmischer Form.“

 

5. citir eva cetana-padād avarūḍhā cetya-saṅkocinī cittam

"Das Bewusstsein selbst, das aus seinem Zustand des reinen Bewusstseins herabsteigt, wird durch das wahrgenommene Objekt kontrahiert. Das ist es, was wir den Geist nennen.“

 

6. tan-mayo māyā-pramātā

"Der Geist ist Wahrnehmender der Dualität."

 

7. sa caiko dvirūpas tri-mayaś catur-ātmā sapta-pañcaka-svabhāvaḥ

"Es ist eins, und doch ist es zwei. Es besteht aus drei. Es hat ein vierfaches Wesen und ist außerdem von Natur aus sieben, fünf und sieben mal fünf."

 

8. tad-bhūmikāḥ sarva-darśana-sthitayaḥ

"Die Positionen, die von allen philosophischen Ansichten vertreten werden, sind ihre verschiedenen Rollen, die Ebenen ihres Selbstausdrucks"

 

9. cidvat-tacchakti-saṅkocān malāvṛtaḥ saṃsārī

"Durch das Zusammenziehen der Kräfte, die zum Bewusstsein gehören, wird es zu einer von Unreinheit verhüllten Sasarin."

 

10. tathāpi tadvat-pañca-kṛtyāni karoti

"Selbst dann vollzieht man die fünf Akte auf die gleiche Weise."

 

11. ābhāsana-rakti-vimarśana-bījāvasthāpana-vilāpanatas tāni

"Man vollzieht die fünf Handlungen durch Manifestation, Anhaftung, subjektives Gewahrsein, das Ablegen des Samens und das Auflösen desselben"

 

12. tad-aparijñāne sva-śakti-vyāmohitatā saṃsāritvam

„Wenn man diese Wahrheit nicht erkennt, befindet man sich im Zustand eines samsārin, in dem man von seinen eigenen Kräften getäuscht wird.“

 

13. tad-parijñāne cittam evāntarmukhībhāvena cetana-padādhyārohāc citiḥ

"Wenn man sich dessen voll bewusst wird, steigt der Geist durch die Hinwendung nach innen zu seinem erweiterten Zustand auf und offenbart sich so als nichts anderes als Bewusstsein."

 

14. citi-vahnir avaroha-pade channo ’pi mātrayā meyendhanaṃ pluṣyati

"Das Feuer des Bewusstseins, obwohl in seinem herabgestiegenen Zustand verdeckt, verzehrt immer noch teilweise das Entzünden erkennbarer Objekte."

 

15. bala-lābhe viśvam ātmasātkaroti

"Wenn man seine angeborene Kraft erlangt, nimmt man alles in sich auf."

 

16. cid-ānanda-lābhe dehādiṣu cetyamāneṣv api cid-aikātmya-pratipatti-dārḍhyaṃ jīvanmuktiḥ

"Wenn man diese Freude der Bewusstheit entdeckt und die Erkenntnis festigt, dass die Bewusstheit eins mit dem Körper ist, usw., selbst wenn sie noch wahrnehmbar sind, nennt man das Jīvanmukti, verkörperte Befreiung."

 

17. madhya-vikāsāc cid-ānanda-lābhaḥ

"Die Freude des Bewusstseins wird durch die Ausdehnung des Zentrums entdeckt."

 

18. vikalpa-kṣaya-śakti-saṅkoca-vikāsa-vāha-cchedādyanta-koṭi-nibhālanādaya ihopāyāḥ

"Die geeigneten Mittel sind hier das Auflösen mentaler Konstrukte, die Kontraktion und Ausdehnung von Energie, das Anhalten der Ströme, die Konzentration auf den Anfangs- und Endpunkt und so weiter."

 

19. samādhi-saṃskāravati vyutthāne bhūyo bhūyaś cid-aikyāmarśān nityodita-samādhi-lābhaḥ

"Wenn du langsam aus der tiefen Meditation auftauchst, während du noch ihre Wirkung spürst, kontempliere die Einheit von allem, das du bewusst wahrnimmst. Wenn du dies immer wieder übst, wirst du einen Samadhi erlangen, der kontinuierlich aufsteigt."

 

20. tadā prakāśānanda-sāra-mahā-mantra-vīryātmaka-pūrṇāhaṃtāveśāt sadā-sarva-sarga-saṃhāra-kāri-nija-saṃvid-devatā-cakreśvaratā-prāptir bhavatīti śivam"

"Durch das Eintauchen in das vollständig erweiterte „Ich“, das im Wesentlichen die Verschmelzung von Erleuchtung und Freude ist und die große Kraft aller Mantras darstellt, erlangt man den Zustand, der Herr des angeborenen Kreises der Göttinnen des Bewusstseins zu sein, die ewig mit der Ausstrahlung und Wiederaufnahme aller Dinge beschäftigt sind. All dies ist Shiva. Möge es zum Segen werden."