Die Verse des Spanda-Kārikā

Die Verse des Spanda-Kārikā, die Kallata (einem Schüler Vasu Guptas, der die Śiva Sutras verfasste. Es gilt heute als hochwahrscheinlich, dass Kallata nicht nur Autor der Kommentare, sondern auch der Verse selbst ist) Anfang des 9. Jh. offenbart worden sei, ist einer der grundlegenden Texte des kaschmirischen Shivaismus.

Die hiesige Übersetzung wurde von Christopher Wallis verfasst, dem sowohl hinsichtlich seiner (kritischen, und dabei praktisch niemals apodiktischen) Expertise als Indologe und Sanskritforscher, als auch als Lehrer des klassischen Tantra eine Kompetenz zugesprochen werden kann, die wohl nur von sehr wenigen Lehrer*innen verwirklicht wurde bzw. wird.

Da hierzulande der Begriff "kaschmirisches Tantra" in großem Maße mit dem Schriftsteller Daniel Odier in Verbindung gebracht wird und dieser in seinem Buch  "Das entflammte Herz" (2020) ebenfalls eine Übersetzung des Spanda-Kārikā bietet, welche jedoch nur mit sehr viel Fantasie mit der erstgenannten zu vereinbaren ist, habe ich Odiers Version in Klammern angefügt. Sie scheint einer französischen Übersetzung von Rosaline Bonnet aus dem Jahre 1989 zu entspringen. Ich halte dies insofern für interessant, als dass Odier, der nicht über fundierte Sanskritkenntnisse verfügt, mit Rückgriff auf die Mythologie Matsyendranaths und seine autobiografischen Schilderungen seiner Initiation durch seine Lehrerin Lalita Devi, auch auf diese Übersetzung implizit seine Methode des Tandava-Tanzes zurückführt, die von den alten Meister*innen übertragen worden sei (und die sich nur bei Odier findet). Ähnlich, wie auch schon in seiner Interpretation des Vijñāna Bhairava Tantra - und übrigens auch der Śiva Sutren - umhüllt Odier seine Leser mit einem vagen impressionistischen Sprachstil, teils mit dem Duktus einer schwärmerischen Entrücktheit, und entlässt sie, etwas betäubt, mit der Andeutung eines Nimbus des Bedeutungsvollen. Dies zeichnet den Romanautor aus.

Hier aber nun die Verse des Spandakarika: 

1. yasyonmeṣanimeṣābhyāṃ jagataḥ pralayodayau |

    taṃ śakticakravibhavaprabhavaṃ śankaraṃ stumaḥ || 1 ||

Wir preisen die gütige Quelle der alles durchdringenden Aktivität des Rades der Kräfte [des Bewusstseins], dessen Ausdehnung das Entstehen der Welt [der eigenen Erfahrung] und dessen Zusammenziehen ihre Auflösung ist.

(Die verehrungswürdige Shankari (Shakti), Quel­le der Energie, öffnet ihre Augen, und das Uni­versum löst sich in reinem Bewusstsein auf; sie schließt sie, und das Universum zeigt sich in ihr.)

2. yatra sthitam idaṃ sarvaṃ kāryaṃ yasmāc ca nirgatam |

    tasyānāvṛtarūpatvān na nirodho’sti kutracit || 2 ||

Das, worauf all das beruht und aus dem es als Auswirkung hervorgegangen ist - da es eine unverhüllte Natur hat, gibt es dafür nirgendwo ein Hindernis.

(Das Erschauern – als ureigenster Ort der Schöp­­fung und der Rückkehr – ist grenzenlos, denn seine Natur ist frei von jeder Form.)

3. jāgradādivibhede'pi tadabhinne prasarpati |

    nivartate nijānnaiva svabhāvādupalabdhṛtaḥ || 3 ||

Deine Essenz-Natur, die Quelle aller deiner Erfahrungen, fließt in allen drei Bewusstseinszuständen gleichermaßen: im Wachzustand, im Traum und im Tiefschlaf, die alle nichts anderes sind als sie. [In all diesen Zuständen] weicht der Wahrnehmende niemals von seiner eigenen essenziellen Natur ab.

(Sogar im Schoße der Dualität taucht der Tan­tri­ka bis zur nicht-dualen Quelle; denn die reine Subjektivität bleibt immer eingetaucht in die eigene Natur.)

4. ahaṃ sukhī ca duḥkhī ca raktaścetyādisaṃvidaḥ |

    sukhādyavasthānusyūte vartante'nyatratāḥ sphuṭam || 4 ||

„Ich bin glücklich“, 'ich leide', 'ich bin anhaftend' und so weiter - diese Erfahrungen spielen sich eindeutig innerhalb eines anderen [größeren Wesens] ab, in dem Glückszustände usw. aneinandergereiht sind [wie Perlen auf einer Schnur].

(Alle relativen, an das Ego gebundenen Begriffe finden ihre friedvolle Quelle wieder, die zutiefst vergraben ist unter den verschiedenen Seinszuständen.)
 
5. na duḥkhaṃ na sukhaṃ yatra na grāhyo grāhako na ca |

    na cāsti mūḍhabhāvo'pi tadasti paramārthataḥ || 5 ||

Darin gibt es kein Leid, kein Glück, kein Objekt, kein Subjekt und auch keine Taubheit: DIES existiert letztendlich.

(Im absoluten Sinne sind Freude und Leid, Subjekt und Objekt nichts anderes als der Raum des tiefen Bewusstseins.)

6./7. yataḥ karaṇavargo'yaṃ vimūḍho'mūḍhavat svayam |

        sahāntareṇa cakreṇa pravṛttisthitisaṃhṛtīḥ || 6 ||

        labhate tat prayatnena parīkṣyaṃ tattvamādarāt |

        yataḥ svatantratā tasya sarvatreyamakṛtrimā || 7 ||

Diese zugrunde liegende Wirklichkeit, aufgrund derer diese Gruppe von Fähigkeiten, obwohl sie an sich empfindungslos ist, spontan Empfindungsfähigkeit erlangt und zusammen mit dem Inneren Kreis [der Mächte] in der Lage ist, sich zu bewegen [und dadurch Erfahrung zu erschaffen], zu verweilen und sich zurückzuziehen [und dadurch aufzulösen], ist es wert, mit Eifer und Sorgfalt erforscht zu werden, da ihr die natürliche und angeborene Freiheit in ihrer Vollständigkeit innewohnt.

(Diese grundlegende Wahrheit zu erfassen, bedeutet, überall die absolute Freiheit zu sehen. So hat die Bewegung der Sinne selbst ihren Sitz in dieser grundlegenden Freiheit und ergießt sich aus ihr.)

8. na hīcchānodanasyāyaṃ prerakatvena vartate |

    api tvātmabalasparśātpuruṣastatsamo bhavet || 8 ||

Denn eine Person (puruṣa) funktioniert nicht dadurch, dass sie [unabhängig] einen Willensimpuls auslöst, sondern dadurch, dass sie mit der Kraft des Selbst in Kontakt tritt und [somit] diesem [vorübergehend] gleich wird.

(Also entrinnt derjenige, der dieses wesentliche Erschauern des Bewusstseins wiederfindet, der Verfinsterung durch das begrenzte Verlangen.)

9. nijāśuddhyāsamarthasya kartavyeṣvabhilāṣiṇaḥ |

    yadā kṣobhaḥ pralīyeta tadā syātparamaṃ padam || 9 ||

Wenn sich die Erregung eines Menschen auflöst, der durch seine eigene Unreinheit unfähig ist und [dennoch] die Dinge tun möchte, die getan werden sollten, dann gibt es den Höchsten Zustand.

(Und so, befreit von der Vielzahl der an das Ego gebundenen Impulse, erlebt er die Erfahrung des höchsten Seinszustandes.)

10. tadāsyākṛtrimo dharmo jñatva-kartṛtva-lakṣaṇaḥ |

      yatas tadīpsitaṃ sarvaṃ jānāti ca karoti ca || 10 ||

Dann wird die unkonstruierte Natur, die sich durch [spontanes und freies] Wissen und Handeln auszeichnet, offenbart, durch die man alles weiß und tut, was man wünscht.

(Also erfasst das Herz, dass die wahre, angeborene Natur zugleich die universal wirkende Kraft ist und die Subjektivität, welche die Welt wahrnimmt. So eingetaucht in das Wissen weiß es und handelt nach seinem Verlangen.)

11. tamadhiṣṭhātṛbhāvena svabhāvamavalokayan |

      smayamāna ivāste yastasyeyaṃ kusṛtiḥ kutaḥ || 11 ||

Wie kann [der Kreislauf von] Unrecht und Leid auf jemanden zutreffen, der seine Essenz mit dem Gefühl betrachtet, dass sie tatsächlich [das gesamte Universum seiner Erfahrung] beherrscht und (sozusagen) in einem Zustand des Staunens verharrt?

(Wie könnte dieser entzückte Tantrika, der immer wieder zu seiner ureigenen Natur als Quelle jeglicher Schöpfung zurückkehrt, der Seelenwanderung unterworfen sein?)

12. nābhāvo bhāvyatām eti na ca tatrāsty amūḍhatā |

      yato 'bhiyoga-saṃsparśāt tad āsīd iti niścayah || 12 ||

Und die Nichtexistenz kann nicht zum Gegenstand der Betrachtung werden: In [der scheinbaren Bewusstlosigkeit] gibt es keinen Mangel an Betäubung, denn wenn man zur Besinnung kommt, hat man die Überzeugung „Es war“.

(Könnte die Leere ein Objekt der Kontemplation sein, wo wäre dann das Bewusstsein, das sie fürchten würde?)

13. atas tatkṛtrimaṃ jñeyaṃ sauṣuptapadavat sadā |

      na tv evaṃ smaryamāṇatvaṃ tat tattvam pratipadyate || 13 ||

Daher sollte dieser [Zustand des Nicht-Seins] als „künstlich“ verstanden werden, wie der Tiefschlaf. Die [oben gelehrte] Wirklichkeit wird niemals als etwas wahrgenommen, an das man sich [lediglich] auf diese Weise erinnert.

(Betrachte also die Kontemplation der Leerheit als künstlich und von vergleichbarer Natur mit der einer tiefen Abwesenheit von der Welt.)

14. avasthā-yugalaṃ cātra kārya-kartṛtva-śabditam |

      kāryatā kṣayiṇī tatra kartṛtvam punar akṣayam || 14 ||

Hier [in dieser Welt] gibt es zwei Zustände, die man Ursache und Wirkung nennt. Letztere ist vergänglich, während die Quelle der Wirkung unvergänglich ist.

(Odier fasst hier 14-16 zusammen: Der Handelnde und die Handlung selbst sind vereint, aber wenn die Handlung sich durch Vernachlässigen der Früchte des Handelns auflöst, so erschöpft sich die an das Ego gebundene Dynamik selbst, und der Tantrika, zutiefst versunken in dieser Kontemplation, entdeckt das von der Bindung an das Ego befreite Erschauern. Die tiefe Natur dieser Handlung wird dann sichtbar, und der, der die Bewegung des Verlangens verinnerlicht hat, wird keine Auflösung mehr erleben. Er kann nicht aufhören zu existieren, denn er ist zur tiefen Quelle zurückgekehrt.)

15. kāryonmukhaḥ prayatno yaḥ kevalaṃ so 'tra lupyate |

      tasmin lupte vilupto 'smīty abudhaḥ pratipadyate || 15 ||

Nur das Bemühen um Wirkung(en) kann in dieser [spirituellen Praxis] verschwinden. Wenn das verschwindet, fühlt sich die törichte Person, als wäre sie nicht mehr da.

16.  na tu yo 'ntarmukho bhāvah sarvajñātva-guṇāspadam |

       tasya lopaḥ kadācit syād anyasyānupalambhanāt || 16 ||

Es kann niemals eine Verletzung, Verletzung oder Zerstörung der eigenen innersten Natur geben, die der Sitz der Allwissenheit ist; denn es kann kein Anderes wahrgenommen werden.

 17. tasyopalabdhiḥ satataṃ tripadāvyabhicāriṇī |

       nityaṃ syāt suprabuddhasya tad ādyante 'parasya tu || 17 ||

Die Verwirklichung dessen ist für den vollständig Erwachten in allen drei Zuständen konstant und unveränderlich, während sie für andere nur am Anfang und am Ende wahrgenommen wird.

(Der erwachte Tantrika verwirklicht dieses kontinuierliche Erschauern durch die drei Seinszustände hindurch.)

18. jñānajñeyasvarūpiṇyā śaktyā paramayā yutaḥ |

      pada-dvaye vibhur bhāti tad anyatra tu cinmayaḥ || 18 ||

Der alles durchdringende Eine erscheint in den [ersten] beiden Zuständen vereint mit der höchsten Macht in der Form von erkennend und erkennbar(s). In den anderen [zwei Zuständen] erscheint er als reines Bewusstsein.

(Shiva ist dann in liebender Vereinigung mit Shakti in der Form des Wissens und seines Gegenstandes, während er überall anderswo sich als reines Bewusstsein offenbart.)

19. guṇādi-spanda-niḥṣyandāḥ sāmānya-spanda-saṃśrayāt |

      labdhātma-lābhāḥ satatam syur jñasyāparipanthinaḥ || 19 ||

Die verschiedenen Ströme der Schwingung, etwa die guṇas, erlangen ihre Natur auf der Grundlage der universellen Schwingung, [daher] können sie den Weg eines Wissenden niemals behindern.

(Die gesamte Palette der verschiedenen Arten des Erschauerns findet ihre Quelle im universellen Erschauern des Bewusstseins und rührt so an das Sein. Wie könnte solch ein Erschauern den Tantrika begrenzen?)
 
20. aprabuddha-dhiyas tv ete svasthiti-sthaganodyatāḥ |

      pātayanti duruttāre ghore saṃsāra-vartmani || 20 ||

Aber für diejenigen, deren Geist nicht erwacht ist, scheinen diese [Ströme] danach zu streben, ihren inneren Zustand zu verbergen, und stürzen sie auf den schrecklichen Pfad des samsāra hinab, der so schwer zu überwinden ist.

(Dennoch verursacht dieses Erschauern selbst den Untergang der Menschen, die einer begrenzten Sicht unterworfen sind, denn wenn ihre Einsicht von der tiefen Quelle losgelöst ist, werfen sie sich in den Strudel der Seelenwanderung.)

21. ataḥ satatam udyuktaḥ spanda-tattva-viviktaye |

      jāgradeva nijaṃ bhāvaṃ acireṇādhigacchati || 21 ||

Wer sich also ständig mit der Unterscheidung des Prinzips der Schwingung (spanda-tattva) beschäftigt, entdeckt auch im Wachzustand schnell seine angeborene Natur.

(Wer sich mit Inbrunst diesem tiefen Erschauern zuwendet, rührt an seine wahre Natur, selbst dann, wenn er sich mitten in der Aktivität befindet.)

22. atikruddhaḥ prahṛṣṭo vā kiṃ karomīti vā mṛśan |

      dhāvan vā yatpadaṃ gacchet tatra spandaḥ pratiṣṭhitaḥ || 22 ||

Die Schwingung bleibt in dem Zustand, in den eine Person gerät, wenn sie wütend ist, sich freut, rennt (tanzt, schwimmt usw.) oder darüber nachdenkt: „Was soll ich nur tun?“

(Das tiefe und beständige Erschauern kann in Extremzuständen erreicht werden: Im Zorn, in intensiver Freude, im mentalen Umherirren oder im Überlebensdrang.)

23. yām avasthāṃ samālambya yad ayaṃ mama vakṣyati |

      tad avaśyaṃ kariṣye'ham iti saṃkalpya tiṣṭhati || 23 ||

Indem man [ausschließlich] auf diesen Zustand vertraut, bleibt man [in ihm] und beschließt: „Ich werde bestimmt tun, was es mir sagt.“

(Odier fasst hier 23. und 24. zusammen: Wenn der Tantrika sich Shiva/Shakti überlässt, steigen Sonne und Mond im zentralen Kanal auf.)

24. tām āśrityordhva-mārgeṇa somasūryāv ubhāv api |

      sauṣumne'dhvany astamitau hitvā brahmāṇḍagocaram || 24 ||

Nachdem der Mond und die Sonne in diesem Zustand Zuflucht genommen hatten, begaben sie sich auf den anmutigen Weg nach oben und ließen das Ei von Brahmā zurück.)

25. tadā tasminmahāvyomni pralīna-śaśibhāskare |

      sauṣupta-padavanmūḍhaḥ prabuddhaḥ syād anāvṛtaḥ || 25 ||

Dann, in der großen Leere, in der Mond und Sonne zerflossen sind, geraten diejenigen, die ihre Wesensnatur nicht erkannt haben, in einen schlafähnlichen Zustand, aber diejenigen, die erwacht sind, bleiben offen.

(Genau in dem Moment, in dem am Himmel Sonne und Mond entschwinden, bleibt der Erwachte klaren Geistes, wohingegen der gewöhnliche Mensch in trüber Unbewusstheit verharrt.)

26./27. tadākramya balaṃ mantrāḥ sarvajñabalaśālinaḥ |

            pravartante'dhikārāya karaṇānīva dehinām || 26 ||

            tatraiva sampralīyante śāntarūpā nirañjanāḥ |

            sahārādhakacittena tenaite śivadharmiṇaḥ || 27 ||

Mantras, die diese innewohnende Macht erlangen, werden von göttlicher Kraft durchdrungen und können ihre jeweiligen Funktionen erfüllen, wie die Sinne der verkörperten Wesen. [Dann] lösen sie sich vollständig in derselben [Macht] auf und werden still und makellos, ebenso wie der Geist desjenigen, der sie verehrt. Deshalb haben diese Mantras die Natur von Śiva [selbst].

(Wenn die Mantras mit der Kraft des Erschauerns geladen sind, erfüllen sie ihre Funktion durch die Sinne des Erwachten hindurch. Sie vereinigen sich mit dem Geist des Tantrika, der in die Natur von Shiva/Shakti eindringt.)

28./29. yasmātsarvamayo jīvaḥ sarvabhāvasamudbhavāt|

            tatsaṁvedanarūpeṇa tādātmyapratipattitaḥ||28||

            tasmācchabdārthacintāsu na sāvasthā na yā śivaḥ|

            bhoktaiva bhogyabhāvena sadā sarvatra saṁsthitaḥ||29||

Die verkörperte Seele besteht aus allen Dingen, weil alle Zustände [in ihrem Bewusstsein] entstehen und weil sie ihre Identität mit dem Bewusstsein wahrnimmt, das sie von allen [diesen] Dingen hat. Daher existiert der Zustand, der nicht Śiva ist, nicht in Worten, Dingen oder Gedanken. Der Erfahrende ist überall und existiert immer als das Gefühl/die Substanz dessen, was erfahren wird.

(Jedes Ding taucht aus der individuellen Substanz des Tantrika auf, der sich in Shiva/Shakti wiedererkennt; alles, was ihn beglückt, ist Shiva/Shakti. So gibt es keinen Seinszustand, der einen Namen trüge, der nicht Shiva/Shakti wäre.)

30. iti vā yasya saṁvittiḥ krīḍātvenākhilaṁ jagat|

      sa paśyansatataṁ yukto jīvanmukto na saṁśayaḥ||30||

Wer diese Art von Erkenntnis hat und die ganze Welt als ein göttliches Spiel sieht, das ständig mit der Realität verbunden ist, ist zweifellos befreit, während er verkörpert ist.

(Indem der Tantrika in der Wirklichkeit, die er als das Spiel seiner eigenen Natur wahrnimmt, immer gegenwärtig ist, wird er inmitten des Lebens selbst befreit.)

31. ayamevodayastasya dhyeyasya dhyāyicetasi|

      tadātmatāsamāpattiricchataḥ sādhakasya yā||31||

Nur so entsteht das [wahre und vollständige] Objekt der Meditation im Geist des Meditierenden: indem der Übende die Identität mit ihm durch [die Macht seines] Willens erkennt (samāpatti).

(Durch die Intensität des gegenstandslosen Verlangens taucht im Herzen des Tantrika, der eins ist mit dem tiefen Erschauern, die Kontemplation auf.)

32. iyamevāmṛtaprāptirayamevātmano grahaḥ|

      iyaṁ nirvāṇadīkṣā ca śivasadbhāvadāyinī||32||

Nur dies bedeutet das Erreichen des Nektars der Unsterblichkeit; nur dies bedeutet das Erfassen der Natur der Identität; und dies ist die [wahre] befreiende Einweihung (nirvāṇa-dīkṣā), die den Zustand von Śiva verleiht.

(Dieses bedeutet das Erreichen des kostbarsten Nektars, die Unsterblichkeit des Samadhi, die dem Tantrika seine eigene Natur enthüllt.)

33./34. yathecchābhyarthito dhātā jāgrato'rthān hṛdi sthitān|

            somasūryodayaṁ kṛtvā sampādayati dehinaḥ||33||

            tathā svapne'pyabhīṣṭārthānpraṇayasyānatikramāt|

            nityaṁ sphuṭataraṁ madhye sthito'vaśyaṁ prakāśayet||34||

Der Eine, der alle Dinge ordnet, lässt den Mond und die Sonne aufgehen, wenn man ihn mit dem Impuls des reinen Wunsches (icchā) anspricht, und schenkt die Ziele, die im Herzen eines verkörperten, wachen Wesens wohnen. Auch im Traum offenbart der Eine, der in der Mitte wohnt, alle gewünschten Dinge und Ziele, denn der Eine ignoriert niemals ein liebevolles Anliegen.

(Die glühende Sehnsucht nach Shiva/Shakti, die das Universum erschaffen, schenkt dem Tantrika die Erfüllung. Im Verlaufe des Traumes erscheinen Sonne und Mond in seinem Herzen – und alle seine Wünsche werden erfüllt.)

35. anyathā tu svatantrā syātsṛṣṭistaddharmakatvataḥ|

      satataṁ laukikasyeva jāgratsvapnapadadvaye||35||

Andernfalls geht die Hervorbringung [von Gegenständen des Erlebens] im Wach- und im Traumzustand von selbst weiter, genau wie bei der weltlichen Bevölkerung.

(Wenn der Tantrika jedoch nicht in der Gegenwart lebt, so wird er vom Spiel der Schöpfung getäuscht werden und den illusorischen Seinszustand eines Aspiranten durch Schlaf und Wachen hindurch kennenlernen.)

36./37. yathā hyartho'sphuṭo dṛṣṭaḥ sāvadhāne'pi cetasi|

           bhūyaḥ sphuṭataro bhāti svabalodyogabhāvitaḥ||36||

            athā yatparamārthena yena yatra yathā sthitam|

            tattathā balamākramya na cirātsampravartate||37||

So wie ein Objekt [oder eine Erfahrung] selbst für einen aufmerksamen Geist zunächst unklar sein mag, wenn er es sieht, und doch klarer erscheint, wenn es durch die Ausübung der innewohnenden Fähigkeit [der Wahrnehmung] erkannt/manifestiert (bhāvita) wird, so wird alles, was existiert, durch das Ergreifen der innewohnenden Fähigkeit [des Gewahrseins] sofort [für den Erwachten] so sichtbar, wie es wirklich ist, unabhängig von seiner Form, seinem Ort oder seinem Zustand.

(So wie ein Gegenstand, welcher der Aufmerksamkeit entgeht, klarer wahrgenommen wird, sobald man sich bemüht, ihn besser zu umfassen, so erfährt der Tantrika das höchste Erschauern, wenn er sich ihm glutvoll öffnet. Auf diese Weise stimmt sich alles auf die Essenz seiner wahren Natur ein.)

38. durbalo'pi tadākramya yataḥ kārye pravartate|

      ācchādayedbubhukṣāṁ ca tathā yo'tibubhukṣitaḥ||38||

Selbst eine gebrechliche Person, die das ergreift, kann tun, was getan werden muss, und auch jemand, der sehr hungrig [nach Erfahrung] ist, kann diesen Hunger stillen.

(Selbst im Zustand äußerster Schwäche wird ein solcher Tantrika zur Vollendung kommen. Auch ausgehungert, wird er seine Nahrung finden.)

39. anenādhiṣṭhite dehe yathā sarvajñatādayaḥ|

      tathā svātmanyadhiṣṭhānātsarvatraivaṁ bhaviṣyati||39||

Wenn der Körper von dieser [Essenz-Natur] getragen und beherrscht wird, erkennt man alles, was man über ihn wissen muss. Wenn man in seinem Selbst verweilt, gilt das Gleiche für jede Situation.

(Mit der Erkenntnis des Herzens als einziger Stütze ist der Tantrika allwissend und lebt mit der Welt in Harmonie.)

40. glānirviluṇṭhikā dehe tasyāścājñānataḥ sṛtiḥ|

      tadunmeṣaviluptaṁ cetkutaḥ sā syādahetukā||40||

Depression ist [wie] ein Dieb im Körper; ihre Ursache ist mangelndes Bewusstsein [der eigenen Essenz-Natur]. Wenn sie durch die Entfaltung (unmeṣa) dieser [Wesensnatur] beseitigt wird, wie könnte sie dann zurückkehren, wenn ihre Ursache beseitigt ist?

(Ist der Körper/Geist von Entmutigung geschlagen, die auf Ignoranz basiert, so kann nur die Ausdehnung des Bewusstseins über alle Grenzen hinaus seine Mattigkeit zerstreuen, deren Quelle dann verschwunden sein wird.)

41. eka-cintā-prasaktasya yataḥ syād aparodayaḥ |

      unmeṣaḥ sa tu vijñeyaḥ svayaṃ tam upalakṣayet || 41 ||

Wenn man mit einer Erkenntnis beschäftigt ist und eine andere [nicht verwandte] Erkenntnis [spontan] auftaucht, sollte man dies als „Entfaltung“ (unmeṣa) erkennen; man sollte sich darauf besinnen.

(Die Offenbarung des Selbst geschieht in demjenigen, der einzig absolutes Begehren ist. Möge ein jeder diese Erfahrung machen!)

42. ato vindurato nādo rūpamasmādato rasaḥ|

      pravartante'cireṇaiva kṣobhakatvena dehinaḥ||42||

Aus diesem Bindu; [und] aus diesem nāda; [und] aus dieser Erscheinung; [und] aus diesem Geschmack. Diese entstehen in rascher Folge als Aktivierungen & [potenzielle] Turbulenzen für den Verkörperten.

(Währenddessen das Licht, der Laut, die Form und der Geschmack denjenigen fesseln, der an das Ego gebunden ist.)

43. didṛkṣayeva sarvārthānyadā vyāpyāvatiṣṭhate|

      tadā kiṁ bahunoktena svayamevāvabhotsyate||43||

[Aber] wenn man verweilt und allem mit Offenheit begegnet, dann - nun, was nützt es, viel zu reden? Das muss man selbst erfahren!

(Wenn der Tantrika jegliches Ding mit seinem absoluten Begehren durchdringt, wozu dienen dann noch Worte? Er macht ja selbst die Erfahrung.)

44. prabuddhaḥ sarvadā tiṣṭhejjñānenālokya gocaram|

      ekatrāropayetsarvaṁ tato'nyena na pīḍyate||44||

Wer das ganze Feld mit Weisheit wahrnimmt, bleibt immer erwacht. Indem er alles auf das Eine richtet, alles in dem Einen deponiert und alles dem Einen zuschreibt, wird er niemals von einem anderen beherrscht.

(Der Tantrika möge ganz in der Gegenwart bleiben, mit seinen aufmerksam in der Wirklichkeit ausgebreiteten Sinnen, und er möge so Stabilität erfahren.)

45. śabdarāśisamutthasya śaktivargasya bhogyatām|

      kalāviluptavibhavo gataḥ sansa paśuḥ smṛtaḥ||45||

[Im Gegensatz dazu] ist jemand, dessen innewohnende Herrlichkeit [scheinbar] durch die begrenzenden Mächte (d.h. die kañcukas) entfernt wurde und der zum Spielball der verschiedenen Mächte geworden ist, die aus der Masse der Phoneme (śabdarāśi) entstehen, als ein gebundenes Wesen (paśu) bekannt

(Wer seiner Kraft durch die dunklen Mächte begrenzter Aktivität beraubt ist, wird zum Spielball der Energie der Töne.)

46. parāmṛtarasāpāyastasya yaḥ pratyayodbhavaḥ|

      tenāsvatantratāmeti sa ca tanmātragocaraḥ||46||

Für einen solchen Menschen bedeutet das Aufblühen von Ideen und Konzepten [die in Bezug auf die direkte Erfahrung entstehen] den Verlust des süßen Geschmacks des Höchsten Nektars [des Gewahrseins]. Infolgedessen verliert er seine Freiheit und Unabhängigkeit. 

(Ist er im Feld der subtilen Energien und der mentalen Vorstellungen gefangen, verflüchtigt sich das höchste Ambrosia, und er vergisst seine angeborene Freiheit.)

47. svarūpāvaraṇe cāsya śaktayaḥ satatotthitāḥ|

      yataḥ śabdānuvedhena na vinā pratyayodbhavaḥ||47||

Die eigenen [sprachlichen] Kräfte sind immer in Bereitschaft, um die eigene wahre Natur zu verbergen, denn Ideen und Konzepte können nicht unbeeinflusst von Worten entstehen.

(Die Macht des Wortes ist immer bereit, die tiefe Natur des Selbst zu verschleiern, denn keine mentale Vorstellung kann auf die Sprache verzichten.)

48. seyaṁ kriyātmikā śaktiḥ śivasya paśuvartinī|

      bandhayitrī svamārgasthā jñātā siddhyupapādikā||48||

Diese Macht Gottes, die „Handlungsfähigkeit“ (kriyā) genannt wird, lebt in den Unerleuchteten (paśu) als bindende Kraft; [jedoch] wenn sie auf ihrem eigenen Weg verwirklicht wird, bringt sie [alle] Errungenschaften zustande.

(Wenn die Energie des Erschauerns ein gewöhnliches Wesen durchdringt, knechtet sie es, während die gleiche Energie den auf dem Weg Befindlichen befreit.)

49./50. tanmātrodayarūpeṇa mano'hambuddhivartinā|

            puryaṣṭakena saṁruddhastadutthaṁ pratyayodbhavam||49||

            bhuṅkte paravaśo bhogaṁ tadbhāvātsaṁsaredataḥ|

            saṁsṛtipralayasyāsya kāraṇaṁ sampracakṣmahe||50||

Der/die [Unbefreite] wird von der Psyche belagert und verdunkelt, die sich im Geist, im Ego und im Urteilsvermögen befindet und die Form von geistigen Bildern und Erinnerungen annimmt. Er/sie erfährt hilflos die Erfahrungen, die durch die Erkenntnisse und Konzepte der Psyche hervorgerufen werden, wodurch er/sie im Kreislauf des Leidens umherwandert. Aus diesem Grund erklären wir, wie man diesen Kreislauf beenden kann.

(Der feinstoffliche Körper selbst stellt ein Hindernis dar, das mit der begrenzten Intelligenz und dem Ego zusammenhängt. Der unterworfene Mensch macht Erfahrungen, die auf seinem Glauben beruhen und auf der Vorstellung, die er sich von seinem Körper macht; gerade dadurch wird die Bindung dauerhaft.)

51. yadā tv ekatra saṃrūḍhas tadā tasya layodayau |

      niyacchan bhoktṛtām eti tataś cakreśvaro bhavet || 51 ||

Wenn er aber fest in dem Einen verwurzelt ist, dann [ist er in der Lage], das Entstehen und die Auflösung seines [feinstofflichen Körpers/Geistes- und Sinnesvermögens (puryaṣṭaka)] herbeizuführen, er bedeutet den Zustand des Erfahrenden und wird folglich Herr des Kreises.

(Doch wenn der Tantrika sich im Erschauern der Wirklichkeit niederlässt, befreit er das Flie­ßen und den Rücklauf der Schöpfung und erfreut sich so der universellen Freiheit als ein Meister des Rades der Energien.)

52. agādhasaṁśayāmbhodhisamuttaraṇatāriṇīm|

      vande vicitrārthapadāṁ citrāṁ tāṁ gurubhāratīm||52||

Ich verehre die wundervolle mündliche Überlieferung meines Gurus, deren verschiedene Worte und Bedeutungen die erlösende Macht darstellen, die es einem ermöglicht, den tiefen Ozean des Zweifels zu überqueren!

(Ich verehre die spontane, erschauernde und wun­dervolle Rede meines Meisters, die mich den Ozean des Zweifels hat durchqueren lassen.)

53. labdhvāpyalabhyametajjñānadhanaṁ hṛdguhāntakṛtanihiteḥ|

      vasuguptavacchivāya hi bhavati sadā sarvalokasya||53||


(Möge dieses Juwel des Wissens alle Wesen dahin führen, dass sie die wahre Natur der Wirklichkeit berühren und im Tiefsten ihres Herzens bewahren.)