Sam Harris: "Erwachen"
Jenseits von Glaube und Religion
In "Erwachen" legt der Neurowissenschaftler und erfahrene Meditierende Sam Harris auf nur wenigen Seiten (259 ohne Anhänge) die Illusion des Ich in wissenschaftlicher Art dar. Dies tut er in leicht verständlicher Sprache, ohne sich dabei einer populärwissenschaftlichen Unredlichkeit verdächtig zu machen.
Der Autor fährt mit einer Fülle an neurowissenschaftlichen Phänomenen und Befunden auf, die sich um Achtsamkeit, Meditation und spirituelle Praxis ranken, wie z.B. das Phänomen des "gespaltenen" Geistes bei einer Durchtrennung des Corpus Callosum und bewusste und unbewusste Informationsverarbeitungsprozesse des Gehirns.
Verbunden damit, schildert Sam Harris in seinem Buch auch seine umfangreichen Erfahrungen mit Ausbildungen bei verschiedenen anerkannten Meditationslehrern, zunächst aus dem Theravada-Buddhismus und später dem Dzogchen (Erkenntnislehre des tibetischen Buddhismus). Die Unterschiede zwischen dualistischer und nondualer Praxis und Perspektive werden hier leicht nachvollziehbar. Auch einige einfache Übungen der Selbsterfahrung bietet der Autor hierzu an. Klar wird: wir können die Erleuchtung nicht herbeimeditieren, und es macht nicht wirklich Sinn, sich für die Meditationspraxis anzustrengen. Und dennoch erscheint es, wie auch im Falle Sam Harris selbst, oft nötig zu sein, erst einmal eine Weile dualistisch praktiziert zu haben, um dies wirklich zu verstehen. Genau hier setzt Dzogchen an.
Darüber hinaus vermittelt der Autor einige Eindrücke zum Phänomen fehlgeleiteter, missbrauchender Lehrer und Gurus anhand unschöner Beispiele von Gurdjeff bis Lama Trungpa. Dem wohnt auch die aus nondualer Sicht befreiende Botschaft inne, dass keine Notwendigkeit besteht, Praktiken oder Manoeuvern eines Lehrers zu folgen, die man nicht versteht. Überhaupt macht es aus dieser Perspektive keinen Sinn, einem Lehrer / einer Lehrerin zu huldigen.
Gegen Ende seines Buches "Erwachen" widmet Trump-Warner Sam Harris sich - weiterhin erkennbar um fundierte wissenschaftliche Skepsis bemüht - auch dem Phänomen "Nahtod-Erfahrungen" und dem Thema "Pharmakologie und Spiritualität", welches er nahtlos aus ersterem entwickelt, dies anhand der fragwürdigen und in der evangelikalen Szene in den USA gehytpen Schilderungen des Neurochirurgen Eben Alexander. Sam Harris zerlegt die Behauptung Alexander's, sein Gehirn sei während seiner Nahtod-Erfahrung "abgeschaltet" gewesen, und seine Erfahrung, die ihn zum tiefen christlichen Glauben geführt habe, sei nicht mit Erfahrungen unter Einwirkung psychedelischer Substanzen, wie z.B. auch mancher Narkosemittel vergleichbar.
Dies führt Sam Harris schließlich zu einem spannenden Diskurs über die mögliche Rolle solcher Substanzen, sowie auch seiner eigenen frühen LSD- und Psilocybin-Erfahrungen für einen spirituellen Weg.
Nachfolgend zwei exemplarische Auszüge aus "Erwachen":
"... Sie werden entdecken, dass es keine wirklichen Grenzen zwischen Naturwissenschaft und jeder anderen Disziplin gibt, die versucht, auf der Basis von Beweis und Logik gültige Behauptungen über die Welt aufzustellen. Wenn sich solche Behauptungen sowie ihre Methoden der Verifizierung experimentell belegen und/oder mathematisch beschreiben lassen, dann bezeichnen wir unser Anliegen gern
als «wissenschaftlich»; haben sie mit abstrakteren Dingen zu tun oder mit der Beschaffenheit unseres Denkens selbst, dann sagen wir oft, wir seien «philosophisch»; sind wir nur daran interessiert, wie Menschen sich in der Vergangenheit verhalten haben, dann bezeichnen wir unser Interesse als
«historisch» oder «journalistisch»; und wird die Verpflichtung einer Person gegenüber Beweis und Logik gefährlich dünn oder reißt unter der Last von Angst, Wunschdenken, Stammesdenken oder Ekstase sogar ab, dann sehen wir, dass es «religiös» ist....."
Und hier wird einmal mehr die nonduale Haltung Sam Harris deutlch:
"...Sobald man die Ichlosigkeit des Bewusstseins einmal erkannt hat, wird die Übung der Meditation einfach zu einem Mittel, sich damit immer weiter vertraut zu machen. Das Ziel besteht schließlich darin, aufzuhören, das zu übersehen, was bereits der Fall ist. Paradoxerweise verlangt dies immer noch Disziplin, und sich Zeit für die Meditation freizuhalten, ist unerlässlich. Doch die wahre Disziplin besteht darin, das ganze Leben lang dem Aufwachen aus dem Traum selbst verpflichtet zu bleiben. Wir müssen an nichts glauben, um dies tun zu können. Tatsächlich besteht die einzige Alternative darin, in Hinsicht auf die Natur unseres Geistes verwirrt zu bleiben.
Bewusstsein ist die Basis sowohl des hinterfragten als auch des unhinterfragten Lebens. Es ist alles, was zu sehen ist, und zugleich das, was sieht. Ganz gleich, wie weit Sie von dem Ort Ihrer Geburt aus gereist sind und wie viel Sie jetzt von der Welt verstehen - Sie haben das Bewusstsein und seine Wandlungen erkundet. Warum dies also nicht direkt tun?..."