Ken Wilber: Integrale Spiritualität
Der Philosoph Ken Wilber, Begründer der "Integralen Theorie" und in Teilen der Neotantra-Szene eine bedeutsame Referenz, versucht mit seinem Entwurf für eine integrale Spiritualität hier u.a. aufzuzeigen, inwieweit traditionelle spirituelle Denksysteme und Herangehensweisen notwendigerweise blind sein müssen gegenüber postmodernen erkenntnistheoretischen Landkarten des Geistes, die zu einem vollständigen Verständnis von Spiritualität sowie der Befähigung, sich im Spirituellen frei und effektiv zu bewegen, unabdingbar seien.
Das Buch bietet die spannende Zusammenschau einer beeindruckenden Fülle von traditionellen, modernen und postmodernen Erkenntnismodellen und bietet u.a. durch ein Modell, bestehend aus Ebenen, Stufen und Linien und den Rückgriff auf die "Spiral Dynamics" (C.W. Graves, D.E. Beck) eine Möglichkeit der Orientierung in den unendlichen Weiten des Geistes, seiner Entwicklungsgradienten und seiner Denksysteme.
In seiner Sammlung lässt Ken Wilber wiederum auch manche Denksysteme missen, wie z.B. den Kurs in Wundern, die hier offenbar nicht integrierbar sind, was dem Anspruch der integralen Theorie, eine Art universelle Landkarte zu sein, ein wenig zuwider läuft.
Gleichzeitig verkürzt Ken Wilber hier manche Konzeptualisierungen (z.B. des Buddhismus) in arg "passender" Weise. So z.B. wird der Abidhamma implizit mit dem Buddha-Dharma gleichgesetzt; dies wäre in etwa so, als spräche man dem vatikanischen Konzil die Deutungshoheit über das zu, was Jesus einst gesagt haben mag. Von Weisheitslehrern, wie dem Buddha, Jesus oder Abhinavagupta, wird angenommen, dass sie sich der von Wilber postulierten "Zonen 2-8" nicht bewusst sein konnten, da der moderne und postmoderne erkenntnistheoretische gesellschaftliche Kontext um sie herum zu Lebzeiten noch nicht existierte. Dies wiederum liest sich durchaus anders, wenn man z.B. den sozialreformerischen Ansatz des Buddha im Licht der Erkenntnisse des bedingten Entstehens, der 3 Daseinsmerkmale und generell den Blick auf das Wesen geistiger Gebilde betrachtet (siehe z.B. Christopher Titmuss: "The explicit Buddha"). Dies legt auch nahe anzunehmen, dass Ken Wilber den nondualen Gedanken nicht wirklich verstanden hat.
Die Bewusstheit selbst bringt zwar eine unendliche Fülle von Konzepten hervor, sie ist jedoch immer größer, als jede Konzeptblase, in die sie sich hineinkontrahiert. Ist es also eine Landkarte für den kontrahierten, mit seinen Vorstellungen und Konzepten identifizierten Geist, um von dort aus auf alle "Daseinsebenen" schauen zu können? Dann würde es helfen, zufällig Ken Wilber - oder zumindest mit seinem Denksystem identifiziert - zu sein, damit dies in diesem speziellen Falle Sinn macht. Denn vielleicht hält man es aus einer der Milliarden anderen kontrahierten Perspektiven gar nicht für so sinnvoll, das Dasein als ein Gebilde aus Quadranten, Zonen, Linien und Gradienten zu betrachten?
Es finden sich darüber hinaus zahlreiche implizite Postulate über das Wesen von Wirklichkeit, die man nun glauben kann oder auch nicht. Wie z.B. die Behauptung, dass die Welt gerettet werden müsse. Woher weiß Ken Wilber das? Oder: wie betrachtet ein "Ich" in Stufe "Violett" (also Gott) das "Mein" darunter? In seiner Begeisterung über sein Denksystem, welches offenbar von nicht wenigen geteilt wird, erscheint mir der Autor in seinen Aussagen hier mitunter recht fundamentalistisch.
Bei alledem bietet er aus meiner Sicht eine durchaus lesenswerte Übersicht über das, was von verschiedener Seite über Spiritualität angenommen und gedacht wird, und die allein deshalb hier eine hilfreiche Landkartenfunktion haben kann (vielleicht postkonventionell aus "Zone 4" seines Modells betrachtet?). Diese Übersicht ist gleichzeitig auch nicht umfassend und sie ist konzeptionell begrenzt. Es ist bei alledem wohl eben nur eine Landkarte (bzw. nur eine Landkarte).